Vom Berater zum Coach

Eine Frage der Haltung

Abschlussarbeit von Anne Pietrus, als PDF lesen


Wie alles begann

Ich war mir sicher, die Ausbildung zum Systemischen Coach ohne großen Aufwand und regelmäßiges Üben zu schaffen.

Warum?

Ich bin eine erfahrene Personalerin.

Für jedes Problem finde ich eine Lösung.

Immer her zu mir! Ich sage dir, was dir hilft und wie du wieder glücklich wirst. Denn ich weiß, was dir gut tut und nach was du suchst. Überlasse es nur mir.

Ha!

Selbst jetzt, Monate später, verspüre ich das Gefühl der Verzweiflung nach dem ersten und zweiten Modul der Ausbildung.

Meine bisherige Erfahrung, Expertise und meine Beratung waren überhaupt nicht gefragt. Von einer gestandenen Fachfrau an der „Frontline“ habe ich mich auf den letzten Platz in einem virtuellen Klassenzimmer katapultiert gefühlt. Mir ging es einfach bescheiden und ich fragte mich, ob die Ausbildung für mich überhaupt geeignet sei.

Monate später sitze ich an meiner Abschlussarbeit.

Das Zertifikat, für das ich hart arbeite, ist endlich in greifbarer Nähe und ich bin gestärkt durch das positive Feedback meiner Test-Coachees.

Ich möchte in dem hier vorliegenden Schriftstück den Weg der Erkenntnis und die Entwicklung meiner Haltung als Coach im Rahmen der Ausbildung an meiner eigenen Erfahrung aufzeigen.

Der Weg von einer zeitweise gelangweilten, beratenden „Expertin“ zu einer aufmerksamen, allparteilichen Zuhörerin ist lang und noch nicht abgeschlossen, jedoch helfen mir die in der Ausbildung erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen mich schnell wieder an den richtigen Platz zu begeben.

Wo dieser Platz meiner Meinung nach ist, erläutere ich in der hier vorliegenden Arbeit.

Nicht noch eine Coaching Definition

Ich werde in dem hier vorliegenden Abschnitt nicht noch eine neue Definition des Begriffes „Coaching“ dem Leser aufbürden.

Lediglich den meiner Meinung nach zutreffendsten Vergleich:

Den gemeinsamen Tanz

Denn der Tanz verkörpert für mich eine Leichtigkeit mit klarer Rollenverteilung, eine gewisse Anstrengung gefolgt von dem Gefühl der körperlichen und seelischen Erleichterung bis hin zur Zufriedenheit.

Ein aufeinander abgestimmtes Tanzpaar mag für den Zuschauer pure Freude ausstrahlen, während die Arbeit oft verborgen bleibt. Das Paar schwebt über dem Boden, weicht Stolperfallen aus.  Verändern sich die Musik und der Rhythmus, so verändert sich auch die Bewegung des Paares. Die einzelnen Phasen des Tanzes, die Reihenfolge der Schritte bleiben dem Beobachter oft verborgen.

So ist das Coaching ein Tanz zwischen zwei gleichberechtigten Menschen, die eine Partnerschaft eingehen. Keiner versucht den anderen zu belehren.

Während der eine Fragen stellt und über diese führt, setzt der andere diese in Überlegungen bzw. Tanzschritte um. Der Erfolg ist auf dem Tanzparkett sichtbar: Beide Partner lassen sich aufeinander ein, während sie sich der Musik voll hingeben.1

Wie jedoch wird man zu einem gut abgestimmten Tanzpaar?

Welche Voraussetzungen sollten erfüllt sein, um eine zu Anfang unbekannte Person dazu zu bringen, sich zu öffnen?

Wie kann ein Coach für mehr Klarheit im Leben des Coachees sorgen?

Ihm helfen, neue Positionen einzunehmen, neue Perspektiven aufzeigen, ohne ihn bewusst in eine bestimmte Richtung zu schieben?

Schließlich entscheidet der Coachee, wohin er gehen möchte, und der Coach hat die Ehre, ihn auf seiner Reise zu begleiten.

Die Haltung oder wie ich zu springen lernte

Nachdem der erste Schock und Frust verschwunden waren, machte ich mich an die Arbeit.

Im Klartext:

Ich erschuf mir einen Gesprächsleitfaden, ein Handbuch, das mich auf alle Eventualitäten im Gespräch vorbereiten sollte.

Einen Fragenkatalog, den ich souverän mit dem Coachee durcharbeiten konnte. Bloß keine peinlichen Pausen, immer eine Antwort parat haben, wenn nicht sogar direkt eine Lösung.

Ich hatte ein klares Ziel vor Augen. Schließlich wusste ich, was mein Klient (von mir) wollte.

Wusste ich das?

Ich wusste es nicht.

Mit meiner proaktiven Art, meiner Hilfsbereitschaft und Perfektion auf der einen Seite und meiner Ungeduld und fehlendem Verständnis für den Unterschied zwischen Beratung und Coaching auf der anderen Seite, erschuf ich ein Menschenbild, das nicht in der Lage war, eigene Lösungsversuche zu starten, geschweige, sie selbständig zu verwirklichen.

Unbewusst übernahm ich die Aufgabe, selbst die Lösungen zu finden und zu entscheiden, welche davon die richtige für meinen Coachee ist.

Damit war das Coaching beendet.

Ich verhinderte schlichtweg ungewollt jegliche Autonomie seitens des Coachees:

Ich hinderte ihn an seinem Glück der Selbstverwirklichung.

Ich musste mein Verständnis für Beratung vs. Coaching schärfen sowie meine eigene Haltung gegenüber dem Klienten überdenken und sein Bild für mich neu erschaffen.

Doch wie sollte ich es angehen?

Ein Berater ist ein Fachexperte auf seinem Gebiet und bestimmt in einem Beratungsgespräch neben dem Ablauf auch, basierend auf dem Anliegen des Klienten, den Inhalt. Die Fragen des Klienten zu einem bestimmten Thema stehen oft im Fokus.

Der Berater nimmt seinem Klienten die Verantwortung ab, gibt Ratschläge und liefert eine oder mehrere mögliche Lösungen für sein Anliegen.

Ein Coach wiederum soll den Klienten durch Anwendung diverser Methoden zum Nachdenken und zur Selbstreflexion bringen.

Der Klient soll Klarheit gewinnen und Lösungen entsprechend seiner eigenen Stärken und Erkenntnisse entwickeln. Dabei ist der Coach lediglich für den Prozess verantwortlich.

Er ist ein Begleiter, der den Coachee dabei unterstützt, sich mit seinem System auseinanderzusetzen, Ressourcen offenzulegen und so eigenständig eine Lösung für sein Anliegen zu erarbeiten.

Den Unterschied beider Berufsbilder habe ich zügig begriffen. Jedoch die Umsetzung in die Praxis gestaltete sich schwierig.  Mein Beruf besteht überwiegend aus Beratung.

Wie kann ich zwischen den unterschiedlichen Welten hin und her pendeln, ohne meine Authentizität und gar den Überblick zu verlieren?

Diesen Spagat musste ich erst lernen. Vor mir lag ein langer Prozess.

Der zweite Aspekt, an dem ich zu arbeiten versuchte, war mein Menschenbild.

Die Basis des Coachings bildet ein Mensch, der in der Lage ist, sich von selbst zu entwickeln. Er in der Lage, neue Lösungen zu erarbeiten und umzusetzen2. Dem widerspreche ich nicht. Jedoch habe ich es zu Anfang meiner Test-Coachings nicht geschafft, die Verantwortung an den Test-Coachee zu übertragen.

Ich war oft mittendrin, sein Leben für ihn zu gestalten.

Welche Voraussetzungen muss ein Coach erfüllen um einem Menschen, der mit einem Anliegen beschäftigt ist und nach externer Unterstützung sucht, zu helfen?

Ich lasse die Beherrschung bestimmter (Frage-) Techniken beiseite und fokussiere mich auf die Haltung des Coaches.

Eines der wichtigsten Bilder, die ich während meiner Ausbildung kennenlernen durfte, ist das Beispiel der Inseln.

Jeder von uns hat im Laufe seines Lebens eine Insel gebaut. Auf meiner Insel spielen Familie, Reisen und gutes Essen eine große Rolle.

Konkrete Ziele werden festgelegt, Entscheidungen zügig getroffen.

Ich mag Dynamik, Ehrlichkeit und Fleiß. Das ist meine Insel, meine Komfortzone.

Und diese musste ich lernen, regelmäßig zu verlassen. Dabei hilft mir die in der Ausbildung vorgestellte Idee der zwei Inseln.

Auf einer Insel sitzt der Coach, die andere wird vom Coachee bewohnt.

Der eine liegt tagsüber genügsam unter Palmen, während der andere in hohen Gräsern jeden Tag eifrig lange Wanderungen unternimmt.

Wie sollen beide nun zueinander finden?

Der Coach muss die Insel des Coachees betreten, quasi dorthin springen. Vorausgesetzt, Beiden sind der Prozess und die Rollen klar.

Der Coach ist für den Prozess verantwortlich, während der Coachee den Inhalt und das Ziel bestimmt.


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1 Vgl. Radatz „Einfu hrung in das systemische Coaching“, 4. Auflage (2010), Seite 14 f.
2 Vgl. Ko nig/Volmer/Ko nig „mini-handbuch Systemisches Coaching, 1. Auflage (2020), Seite 29 ff.