Perspektive haben

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Meine Motivation

Diese Abschlussarbeit hat keinen wissenschaftlichen Anspruch.

Vielmehr möchte ich hier meine Wertschätzung für die unzähligen, individuellen und sich ständig  verändernden Sichtweisen auf diese Welt zum Ausdruck bringen. Mit dem Wissen, dass es mehr als nur meine eigene limitierte Perspektive auf die Welt gibt, setze ich nicht mehr voraus, dass jemand die Welt durch genau meine Brille betrachtet. Gleichzeitig kann ich mir eine neue Welt erschließen, indem ich offen dafür bin, meine Perspektive zu wechseln – wenn mir danach ist.

Auch vor der Ausbildung habe ich mich mit dem Konstruktivismus und meiner eigenen Selbstreflexion beschäftigt. Und doch, wer hätte es gedacht, konnte ich während der Ausbildung viele neue Sichtweisen sammeln.

Der Perspektivwechsel, in meinem Verständnis, eine der essentiellen Grundlagen des systemischen Coachings.

Die individuelle Perspektive

Der konstruktivistische Ansatz unterstellt, dass wir Menschen nicht die eine Wahrheit erkennen, sondern jeder für sich seine individuelle Welt als Wahrheit und Realität konstruiert1. Diese individuelle Realität entsteht durch die Art und den Umfang der aufgenommenen Sinneseindrücke und deren intrapersonellen Verarbeitung und Interpretation.

Damit möchte ich sagen: jeder Mensch bedient sich unterbewusst seiner eigenen Wahrnehmungsfilter und Verarbeitungsprozess. Dadurch gestaltet jeder Mensch unbewusst seine subjektive Realität.

Der Duden bietet zum Thema „Perspektive“ unter anderem folgende Informationen 2:

Perspektiven werden demnach nicht nur mit einer Betrachtungsweise assoziiert, sondern auch mit einer Zukunftsmöglichkeit. Dies entspricht der lösungsorientierten Haltung im systemischen Coaching.

Nachfolgend drei Ansätze aus dem NLP, die in Kombination mit einer konstruktivistischen Haltung einen Erklärungsansatz bieten.

Repräsentationssysteme

Mit Repräsentationssystemen sind im NLP unsere Sinnessysteme gemeint:

Jeder Mensch nutzt seine Sinne in unterschiedlicher Art und Ausprägung.

Während der eine den gehobenen Daumen als vollumfängliches Lob oder Zustimmung erkennt, versteht ein anderer die Anerkennung erst, wen sie mit einem passenden Tonfall laut ausgesprochen wird. Wieder ein anderer spürt das Lob mit einem High 5 oder einem Handschlag.

Allein dieser Unterschied führt dazu, dass Lebewesen die Welt unterschiedlich wahrnehmen und interpretieren – eben unterschiedliche Perspektiven auf ein und dasselbe haben. Wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, die unterschiedliche Repräsentationssysteme, bzw. Sinneskanäle präferieren, bietet sich Raum für Missverständnisse3.

Ein praktisches, recht einfaches, wenn auch konstruiertes Beispiel:

„Als visueller Chef verteile ich häufig mal den „Daumen nach oben“. Ich möchte gerne Anerkennung verteilen, das ist mir wichtig. Meine Mitarbeiter sollen wissen, dass ich ihre Leistung sehe.“

„Als auditiver Mitarbeiter fehlt es mir hier an Verständnis. Ich würde gerne mal ein deutliches Feedback hören. Aber was Lob angeht herrscht absolute Stille, meine Leistung wird mit keiner Silbe erwähnt.“

Obwohl beide nichts Böses im Sinn haben, entsteht ein Missverständnis.

Der auditive Mitarbeiter fühlt sich nicht wertgeschätzt.
Der visuelle Chef bemerkt die Unzufriedenheit des Mitarbeiters entweder gar nicht oder kann sie nicht einordnen, da er seiner Meinung nach recht großzügig mit gutem Feedback ist.

Ein anderes Beispiel: Zwei Freunde fahren gemeinsam in den Urlaub und berichten bei ihrer Rückkehr von ihren Erfahrungen:

Freund 1:
„Es war ein Traum. Weißer Sandstrand, soweit das Auge reicht, der Himmel war blau und das Wasser kristallklar. Deswegen war das Schnorcheln auch richtig toll, wir hatten klare Sicht und konnten richtig viele kunterbunte Fische sehen. Das Hotelzimmer  war jetzt nicht wirklich modern eingerichtet, aber dafür hatten wir einen schönen Meerblick.“

Freund 2:
„Joa, war ganz nett. Die lange Schlange am Buffet abends fand ich echt anstrengend und die Liegen am Strand waren leider total unbequem. Das angenehm warme Wasser beim Schnorcheln hat das so ein bisschen ausgeglichen, aber vorher und nachher habe ich auf dem Boot, mit dem wir rausgefahren sind, ganz schlimm gefroren. Und dann funktionierte auch das warme Wasser unter der Dusche nicht…“

Die Beispiele zeigen, dass, je nach präferiert angewandtem Repräsentationssystem, dieselbe Situation komplett unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Eng verknüpft mit der Wahrnehmung ist die Interpretation dieser Situation und folglich die Perspektive auf die Welt.

Wahrnehmsungsfilter

So gerne ich es auch möchte (oder auch nicht), ich werde die Gerüche dieser Welt nicht so differenziert wahrnehmen können, wie ein Hund.

Er kann mit den Sinneszellen in seiner Nase deutlich präziser Gerüche zuordnen und ihnen sogar folgen.
Auch wird es mir kaum gelingen eine Maus im dichten Gras aus 50 Meter Höhe zu erkennen. Im Gegensatz zu einer Eule, die mit ihren hervorragenden Augen sogar nachts dazu im Stande ist. Der Maulwurf im Vergleich hingegen…

Viele Informationen der Welt kann ich als Lebewesen gar nicht über mein Nervensystem aufnehmen. Mir fehlen auf einer körperlichen Ebene schlicht die Fähigkeiten dazu. Und auch wenn ich diese Informationen nicht aufnehmen kann, so sind sie doch vorhanden und gehören zu dieser Welt, zu dieser Realität. Und nicht nur zwischen dem Menschen und verschiedenen Tierarten gibt es Unterschiede in der Ausprägung dieses neuronalen Filters, sondern auch zwischen den Menschen selbst – beispielsweise in Bezug auf das Höroder Sehermögen einzelner Personen

Informationen, die wir neuronal aufnehmen können, werden auf eine gewisse Weise verarbeitet. Spätestens ab dem Moment unserer Geburt werden wir und unsere soziale Wahrnehmungsfilter von unserer Umwelt beeinflusst. Ein Beispiel für den Effekt dieser umweltabhängigen Filter:

Während der Skandinavier tendenziell bei 20 Grad Celsius den Pullover auszieht, zieht der Marokkaner ihn wohlmöglich wieder an – weil die Wahrnehmung der Temperatur durch das durchschnittliche Umgebungsklima individuell geprägt ist.

Allerdings haben auch die eigenen Erfahrungen einen Einfluss auf unsere Wahrnehmungsfilter. Hier spricht man von den s.g. individuellen Filtern.
Warst du in der Schule richtig gut in Mathe? Dann war die Note 2 in einer Klausur schon eine Ernüchterung für dich? Oder war dein Mathe-Motto „Augen zu und durch“? Dann fandest du eine 4 echt gut, oder? (und gut ist ja bekanntlich fast eine 1!).

Und vermutlich wird ein passionierter Maler ganz andere Farbnuancen erkennen und benennen können, als ein durchschnittlicher Baumarkt-Besucher.

Unsere individuellen Wahrnehmungsfilter basieren auf unseren eigenen Erfahrungen und Prädispositionen und sorgen dafür, dass wir eine ganz persönliche, einmalige Brille entwickeln, durch die wir auf diese Welt schauen.


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1 P. Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit?: Wahn, Täuschung, Verstehen; Piper ebooks, 2018
2 Dudenredaktion (Hrsg.). (o.J.). Perspektive. Duden online. abgerufen von https://www.duden.de/rechtschreibung/Perspektive
3 A. Mohl: Der Zauberlehrling: Das NLP-Lern- und Übungsbuch, Junfermann Verlag GmbH, 2012, S. 43