Minimalismus als Instrument für Scanner-Persönlichkeiten

Abschlussarbeit von Dipl.-Ing. Kyra Pfeil, als PDF lesen


Das Glück liegt in uns, nicht in den Dingen.

Das wusste schon Buddha

Minimalismus

Laut Duden ist Minimalismus die „bewusste Beschränkung auf ein Minimum, auf das Nötigste“ (Website DUDEN). Es gibt ihn schon lange in der Kunst, der Musik und der Architektur. Minimalismus wird auch als „das einfache Leben“ bezeichnet.

Doch was bedeutet das und wozu das Ganze? Welche gesellschaftlichen Entwicklungen befördern Minimalismus?

Was hat Minimalismus mit Coaching zu tun?

Minimalismus als Lebensstil

Nur moderner Lifestyle oder Beginn einer neuen Ära?

Seit einiger Zeit ist Minimalismus in Fachbüchern und -zeitschriften, Blogs und Social Media, Funk, Fernsehen und Kino präsent. Blogger- und Youtuber:innen unterbieten sich in der Frage, wer die wenigsten Dinge besitzt: Capsule Wardrobe, kahle Wohnungen mit weißen Wänden, ein gefüllter Koffer als einziger Besitz, das Tiny House – all dies sind mögliche Ausprägungen des minimalistischen Lebensstils. Sie sind jedoch nicht der Maßstab, da jeder Mensch für sich selbst definiert, was zu viel, zu wenig oder genau richtig ist.
Gemein ist allen Ausprägungen die vorausgegangene Auseinandersetzung mit sich selbst und den eigenen Bedürfnissen.

Schon in den 70er Jahren bezeichnete der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich FROMM Haben und Sein als

zwei grundlegend verschiedene Formen menschlichen Erlebens

(Fromm 2017: 30)

wobei der Unterschied zwischen dem Geist einer Gesellschaft, die den Menschen zum Mittelpunkt macht und dem Geist einer Gesellschaft, die sich um Dinge dreht, bestehe. Fromm appellierte, die Gesellschaft müsse sich zurück in Richtung Sein entwickeln, um ökologische Katastrophen, Krankheiten und verheerende sozio-ökonomische Entwicklungen abzuwenden (vgl. Fromm 2017: 26; 34).

Der Zukunftsforscher Matthias HORX befasst sich rund 50 Jahre später mit dem System der Globalisierung. Vom globalen Wirtschaftsmodell der letzten Jahrzehnte hätten alle profitiert, z.B. durch günstige Flugreisen und eine unbegrenzte Auswahl an materiellen Gütern. Dieses Modell stoße jedoch nicht zuletzt auf grund der pandemischen Lage 2020/2021 an seine Grenzen:

Wir überraschten uns, weil wir plötzlich merkten, dass wir vieles, was wir unbedingt gebraucht hatten, gar nicht so schrecklich vermissten. Dass Verzicht gar kein Verzicht sein muss, sondern oft auch Befreiung möglich macht.
(Horx 2020: 54).

Die Philosophin Ines Maria ECKERMANN beschreibt die Entwicklungen wie folgt: Fear of missing out (FOMO) wird zu joy of missing out (JOMO) (vgl. Eckermann2019: 283-288).

Es ist davon auszugehen, dass sich der minimalistische Lebensstil aufgrund externer Einflüsse, sich schnell wandelnder Anforderungen und Rahmenbedingungen („VUCA-Welt“) sowie des steigenden Leidensdrucks vieler Menschen „im Hamsterrad“ weiterverbreiten wird.

Minimalismus wird häufig kontextualisiert mit Konzepten und Ansätzen wie Frugalismus, Zero Waste, Reund Upcycling, Next Economy, Regionalität, Achtsamkeit oder Zen-Buddhismus.

Von allem zu viel?

Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, von Geld, das wir nicht haben, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen.

– Dieses Zitat, das sich nicht eindeutig einem Verfasser zuordnen lässt, beschreibt das Dilemma, in dem sich viele Menschen in der heutigen Überflussgesellschaft wiederfinden.

Die Anhäufung von sog. Gerümpel – auch bezeichnet als „was wir nicht mögen oder verwenden, was unordentlich oder unorganisiert ist, zu viel in begrenztem Raum, was unerledigt oder unfertig ist“ (Kingston 2019: 25) – hat viele nachteilige Folgen. Gerümpel macht müde und lethargisch, blockiert Neues, kann verwirren und lenkt von Wichtigem ab (vgl. Kingston 2019: 30-45).
Unnütze Dinge rauben Lebensenergie.

Steigender Wohlstand, die permanente Verfügbarkeit von Konsumgütern sowie die weit verbreitete Annahme, Erfüllung durch das Anhäufen von Besitz zu erlangen, führen nicht nur zu einem materiellen Overload.

Ein einfaches Beispiel illustriert die Last, die persönlicher Besitz mit sich bringen kann:

Ein Auto kostet nicht nur Geld bei der Anschaffung, wofür oftmals Kredite aufgenommen werden. Es braucht einen Stellplatz oder ein Parkticket, muss betankt, gereinigt, gewartet und repariert werden, kostet Versicherung und Steuer. Je mehr Besitz, desto mehr zeitliche, mentale und finanzielle Ressourcen werden gebunden.

Viele Menschen leiden nicht nur an einem Überfluss an Dingen, sondern auch unter einem hohen Arbeitspensum sowie einem vollen Terminkalender im Privatleben. Verschiedene Rollen wollen gleichzeitig oder in schnell wechselnder Abfolge gelebt und erfüllt werden:
Job, Partnerschaft, Familie, Haushalt, Freizeit,  Selbstoptimierung und soziale Verpflichtungen – und das alles 24/7.
Hinzu kommen permanente Ablenkungen und Einflüsse durch Medien, insbesondere digitaler Art.

In Summe führt dies zu einer Zunahme physischer und psychischer Probleme.

Immer mehr Menschen sind überlastet, unzufrieden und suchen dem tieferen Sinn ihres Daseins.

Elemente des einfachen Lebens

Das einfache Leben wurde schon in der Antike zelebriert und propagiert.

Wie viele Dinge es doch gibt, die ich nicht brauche

erkannte Sokrates (469-399 v.Chr.). Und Diogenes von Sinope (ca. 413-323 v.Chr.) soll Reichtum für „die Kotze des Glücks“ gehalten haben.

Heute werden jährlich hunderte Ratgeber publiziert, die Anleitungen für ein einfaches Leben enthalten. Viele davon beziehen sich auf die Themen Ausmisten, Aufräumen und Ordnen. Als wohl berühmteste Verfechterin für mehr Struktur in der eigenen Wohnung gilt die Japanerin Marie Kondo. Doch materieller Ballast ist nur einer von vielen möglichen Ansatzpunkten, um einer Überlastung entgegenzuwirken und mehr Leichtigkeit zu entwickeln (s.o.). So beschreibt der Theologe und Journalist Werner Tiki Küstenmacher acht Stufen zu einem „einfachen, klaren Kern, dem Wesentlichen unseres Lebens“ (Küstenmacher 2008: 19-22):

    1. Sachen: Materieller Besitz.
    2. Finanzen: „Virtuelle Sachen, potenzielle Materie.“
    3. Zeit: Wieviel Zeit bleibt zum Zu-sich-Kommen, Nachdenken, Nichtstun?
    4. Gesundheit: Miteinander von Körper und Geist.
    5. Beziehungen: Kontakte privater und beruflicher Art.
    6. Partnerschaft: Begegnung mit dem Du.
    7. sich selbst: Persönlichkeit, Vorstellung von Erfüllung und Glück.
    8. Spiritualität: Sinn, Woher und Wohin des Lebens

Sicher ist:

Minimalismus erfordert Mühe. Er verlangt uns die Bereitschaft ab, unsere Werte, unsere Wünsche und uns selbst ständig zu hinterfragen

(Eckermann 2019: 203).

Für manche Personengruppen birgt Minimalismus besonderes Potenzial.


als PDF weiterlesen


Quellen bis hierher

BAUER, Annette 2017: Vielbegabt, Tausendsassa, Multitalent? Achtsame Selbstfürsorge für Scannerpersönlichkeiten. Junfermann Verlag GmbH, Paderborn, 1. Auflage, 2017.
BORGEEST, Gunda 2020: Ordnung nebenbei. Aussortieren, aufräumen, aufatmen. Stiftung Warentest (Hrsg.), Berlin, 2. Nachdruck, 2020.
ECKERMANN, Ines Maria 2019: Ich brauche NICHT mehr. Konsumgelassenheit erlangen und nachhaltig glücklich werden. Tectum Verlag der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden. 1. Auflage, 2019.
FROMM, Erich 1979: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, 44. Auflage, 2017.
HEINTZE, Anne 2016: Auf viele Arten anders. Die vielbegabte Scanner-Persönlichkeit: Leben als kreatives Multitalent. Ariston Verlag der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München. 1. Auflage, 2016.
HORX, Matthias 2020: Die Zukunft nach Corona. Wie eine Krise die Gesellschaft, unser Denken und unser Handeln beeinflusst. Econ Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin, 4. Auflage, Juli 2020.
KINGSTON, Karen 1998: Feng Shui gegen das Gerümpel des Alltags. Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 9. Auflage, November 2019.
KÜSTENMACHER, Werner Tiki 2004: simplify your life. Einfacher und glücklicher leben. Knaur Verlag der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München, Taschenbuchausgabe, 2008.
SHER, Barbara 2012: Du musst dich nicht entscheiden, wenn du tausend Träume hast. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, 9. Auflage, 2020.

DUDEN: www.duden.de, letzter Zugriff am 03.08.2021
GEDANKENSHIFT: www.gedankenshift.de, letzter Zugriff am 03.08.2021
MARKGRAF COACHING: www.markgraf-coaching.de, letzter Zugriff am 31.07.2021
OPEN M IND AKADEMIE: www.open-mind-akademie.de, letzter Zugriff am 06.08.2021
SCANNER-PERSÖNLICHKEIT: www.scanner-persoenlichkeit.de, letzter Zugriff am 06.08.2021
THE M INIMALISTS: www.theminimalists.com, letzter Zugriff am 06.08.2021