Idiolektik

wirksame Gespräche führen mit Hilfe der Eigensprache

Abschlussarbeit von Anja Seifferth, als PDF lesen


Begriff und Entstehungsgeschichte der Idiolektik

„Idio…WAS?“ – dies ist in den meisten Fällen die erste Reaktion von Menschen, wenn das Gespräch auf die Methode Idiolektik kommt. Und ich kann es keinem verdenken – ich selbst bin nur durch Zufall zur Idiolektik gekommen und der Kreis der Personen in Deutschland, die Idiolektik anwenden oder lehren, ist noch sehr klein. Umso mehr freut es mich, diese Gesprächsform im Rahmen meiner Abschlussarbeit vorstellen zu können. Ich habe 2018 im Anschluss an einen MBSR-Kurs (ein Kurs zum Erlernen unterschiedlicher Meditationsformen) auf Einladung meines damaligen Lehrers Dr. Eckard Krüger das erste Mal an einer Übungsgruppe zur Idiolektik teilgenommen – und war mehr als verblüfft. Die Demogespräche zu Anliegen der verschiedenen Teilnehmer liefen leicht, spielerisch, sehr wertschätzend und in kürzester Zeit ausgesprochen tiefgründig – fast „wie nebenbei“. Gleichzeitig konnte ich keine einzige der von mir bisher in NLP, Familienstellen und diversen Führungstrainings gelernten Kommunikationsmethoden wiederfinden. Kein „aktives Zuhören“, keine Zusammenfassung des Gesagten, keine Zieldefinition, keine der gelernten Coachingfragen, keine Situationsanalyse, keine erkennbare Intervention, kein „Rahmen“, kein Führen. Entsprechend hilflos war ich, als die Reihe an mir war eine idiolektische Frage zu stellen und ich scheiterte prompt.

Dieses Erlebnis war der Startpunkt für mich auf dem Weg zu „das will ich auch können“ – ein Weg mit vielen Lerninhalten bzgl. mir selbst und dem Coachee, der vor mir sitzt. Ein Weg, bei dem ich bei der Anwendung von Idiolektik viel Demut gelernt und, wenn ich selbst in den Genuss eines Gesprächs kam, die nachhaltigsten inneren Erkenntnisse für mich selbst gefunden habe gepaart mit dem wachsenden inneren Vertrauen, dass alle Lösungen wirklich bereits in dem Menschen selbst sind.

Was heißt „Idiolektik“?
Idiolekt (zu altgriechisch ἴδιος ídios, deutsch ‚eigentümlich, eigen‘; gelegentlich auch: Ideolekt) bezeichnet die individuelle Sprache eines einzelnen Menschen. Dazu gehören etwa sein Wortschatz, sein Sprachverhalten, seine Ausdrucksweise und seine Aussprache.1

Daraus ableitend beschreibt die Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung Idiolektik wie folgt:

„Idiolektik ist der methodische Umgang mit Eigensprache. Eigensprache ist die ganz individuelle Art sich mitzuteilen. Sie drückt die Einzigartigkeit eines Menschen ebenso aus wie das Hautrelief der Fingerkuppen oder der genetische Code. Auch die Art und Weise wie ein Mensch sich bewegt ist einzigartig. Das nennt man Idiomotorik. Die Eigensprache umfasst alle verbalen (sprachgebundenen), non-verbalen (gestischen/mimischen) und para-verbalen (sprachmelodischen) Merkmale einer Mitteilung. In Gesprächen, die sich an der Eigensprache orientieren, kommt daher die Unverwechselbarkeit einer Person zum Ausdruck. Das tiefgreifende Wissen dieser Person über sich selbst wird gewürdigt. Würdigung und Anerkennung sind unverzichtbare Voraussetzungen für Veränderungen. Idiolektik ist die Gesprächsmethode, die in konsequenter und kompromissloser Weise an der subjektiven Lebenswelt eines Menschen Anschluss nimmt.“2

„BegründerInnen des idiolektischen Konzepts sind der amerikanische Arzt, Psychiater und Psychotherapeut David Jonas und seine Frau, die Anthropologin Doris Jonas. Kern und unterscheidendes Merkmal der Idiolektik ist nach David Jonas „die Kunst eines bestimmten, bewussten, präzisen, professionellen und achtsamen Umgangs mit der Eigensprache einer Person.“ Nach dem Tod von David Jonas im Jahr 1985 wurde das Konzept der Idiolektik von seinen Schülern und Schülerinnen weiter umgesetzt und entwickelt und das Fundament von Theorie und Praxis ausgebaut.“3

Die zweite Generation der Idiolektiker, die die Methode anwandten und weiterentwickelten, wurde von Horst Poitmann und Hans Hermann Ehrat vertreten. Zur dritten Generation, die derzeit im deutschsprachigen Raum Idiolektik schult und weitergibt und sich um die Verbreitung aktiv bemüht, gehört Dr. Eckard Krüger, Dr. Tilman Rentel und Peter Winkler. Dr. Eckard Krüger führte mich geduldig und liebevoller durch die ersten unsicheren Schritte in der Anwendung von Idiolektik. Dr. Tilman Rentel ließ mich teilhaben an seinem Wissensschatz und durch ihn und seine Kurse konnte ich ein größeres Netzwerk an Idiolektik-Begeisterten kennenlernen – von Profi-Anwendern wie z.B. Personen, die von Polizei und Feuerwehr zu Menschen gebracht werden, die kurz davor sind sich das Leben zu nehmen, um mit ihnen zu sprechen bis hin zu Anfängern wie mich.

Grundsätze

Idiolektik ist von den Grundätzen mit anderen Coaching-Richtungen, wie z.B. den Grundannahmen des NLP, sehr vergleichbar. Es gibt drei zentrale Prinzipien bzw. Axiome:

1. Das Selbstorganisationsprinzip oder die innere Weisheit des Menschen sorgt unter gegebenen Umständen für optimale Verhaltensweisen die man benötigt, um zu leben.
2. In seiner Eigensprache kommt der Mensch umfassend in seiner Ganzheit zum Ausdruck.
3. Idiolektiker erkennen als einzige Kraft der Veränderung die dem Menschen innewohnende Selbstorganisation.4

Daraus folgt als Coach von der Haltung her absolute Ergebnisoffenheit, Respekt und nicht-wertende Aufmerksamkeit.
Während sich andere Coaching-Richtungen je nach Anliegen des Klienten vielfältiger Methoden und Interventionen bedienen, greift Idiolektik konsequent „nur“ die Eigensprache des Klienten auf.
Ähnliche Grundsätze werden bei den Methoden „Clean Language“ und „Clean Space“ von David Grove, Penny Tompkins und James Lawely verfolgt, wobei hier die Fragestellungen fest definiert und nicht frei gestaltbar sind.

Vorgehen

Vom Lerntyp her würde ich mich selbst als sehr strukturiert einschätzen. Ich mag es, einen klaren Ablauf vorgestellt zu bekommen, den ich nach vielen Übungen beherrsche. Als erfahrender Profi traue ich mir dann auch zu, von dem Regelwerk abzuweichen und kreative eigene Wege auszuprobieren – anfangs eng an das Ursprungskonzept angelegt, dann immer flexibler werdend. Diese Vorgehensweise habe ich auch bei der Ausbildung bei Inkonstellation sehr geschätzt.
Zu Idiolektik bekam ich keine Anweisung, keinen Ablaufplan, kaum ein Skript zur Vorgehensweise (maximal Anregungen, in welche Richtung Fragen gehen können wie z.B. in den Seminarunterlagen von Dr. Tilman Rentel „Idiolektik mit dem inneren Kind“ aus dem Onlinekurs vom Mai 2021). Nur Zuhören, lernen, auf mich wirken lassen.

Das mag meiner Meinung nach damit zusammenhängen, dass Idiolektik vom Vorgehen her sehr einfach zu beschreiben ist, das Lernen und Begreifen der Methode aber nur im
Erleben möglich ist:

Als Idiolektiker greife ich Schlüsselwörter meines Coachees auf und gebe ihm diese in Form von offenen Fragen zurück.

Dazu bedarf es, mit voller nicht-wertender Aufmerksamkeit beim Gegenüber diese sogenannten „Schlüsselwörter“ oder auch „Schlüsselgesten“ zu identifizieren, die ihm oder ihr (unbewusst) wichtig sind. Oft aber nicht immer sind Schlüsselwörter bildliche Metaphern. Die Wichtigkeit zeigt sich mir als Beobachter durch eine besondere oder andere Stimmlage oder Lautstärke, untermalende Gestik, prägnante Mimik, veränderte Körperhaltung usw.. Diese Schlüsselwörter verwende ich dann für die nächste Frage.

Mögliche Fragen beim Beispiel Schlüsselwort „Baum“:

• Wo steht der Baum?
• Wie kann ich mir den Baum vorstellen?
• Was fällt Dir zu dem Baum ein?
• Was hat der Baum für Eigenschaften?
• Wie sieht die Landschaft um den Baum herum aus?

Eine zweite wichtige Grundregel bei der Wahl der Fragen ist, als Coach „hinterher zu gehen statt vorneweg zu laufen“ und sich prinzipiell auf die Seite des abgewerteten Teils zu stellen, d.h. zu den Themen, die der Coachee loswerden will und diese positiv zu würdigen. Es gilt zu hinterfragen, was das Gute an dem sein könnte, was den Coachee in seiner Beschreibung so stört. Als „Anwalt des Abgelehnten“ bezwecke ich als Coach den Coachee mit diesen Seiten an sich und in sich zu versöhnen. Selbstakzeptanz und Annehmen von dem was ist, ist die Grundvoraussetzung, um Veränderung möglich zu machen.

Praktisches Beispiel aus einem Coachinggespräch

„Kunst und Könnerschaft“ (gekürztes Gedächnisprotokoll)
Die jeweiligen Schlüsselwörter, die im Gespräch erkennbar waren, sind zum besseren Verständnis fett markiert.

Mein Coachee ist praktizierender Arzt in einem Krankenhaus. Er kommt gerade von einem Patientengespräch.

Ich:
Magst Du mir etwas erzählen?

Coachee:
Ja, ich bin gerade richtig aufgebracht. Wir wollen mit dem Patienten M. eine ganz entscheidende Therapie beginnen und es ist absolut wichtig, dass er kooperiert und mithilft. Aber bei dem ist Hopfen und Malz verloren. Eine Stunde habe ich mir Zeit genommen und ihm alles erklärt, aber er ist einfach nur stur – das hat keinen Sinn, das ist nur Ressourcenverschwendung!

Ich:
Stur…….was könnte das Gute daran sein, als Patient stur zu sein?

Coachee:
Naja, manchmal sind wir als Ärzte natürlich schnell in unseren Diagnosen undwir haben auch nicht immer Recht. Der Vorteil ist sicherlich, dass wir uns mit so jemanden dann intensiver beschäftigen und uns mehr Zeit nehmen, alles zu erklären. Aber bei dem Patienten beißt man echt auf Granit.

Ich:
Wie kann ich mir den Granit vorstellen? Kannst Du mir den Granit beschreiben?

Coachee:
Der Granit? Der steht allein auf einer Wiese wie hingeworfen, ist nicht zu bewegen.

Ich:
Wie sieht die Landschaft aus, in den der Granit geworfen worden ist?

Coachee:
Eigentlich sehr schön. Es ist im Gebirge, ein kleiner Bach geht vorbei, in dem das Wasser schnell fließt, außenrum weiden Kühe. Der Stein ist ganz fest, außenrum tobt mit dem Wasser das Leben. Ganz verrückt ist das. So ein Gegensatz!

Ich:
Wo möchtest Du weitergehen? Willst Du beim Granit bleiben oder dem Bach folgen?

Coachee:
Dem Bach folgen

Ich:
Wo fließt der Bach hin?

Coachee:
Der wird immer breiter, es kommen kleine andere Bäche dazu und schließlich ist er fast zwei Meter breit und hat echt Kraft.

Ich:
Woran siehst Du die echte Kraft?

Coachee:
Da ist eine Sägewerk am Ende, das von einem Wasserrad angetrieben wird. Ein großes Sägewerk mit kräftigen Sägen… (lächelt versonnen)

Ich:
Was macht eine kräftige Säge aus?

Coachee:
Es kommt darauf an, dass es die richtige Säge ist, die Kraft kommt dann nur dazu. Mit der richtigen Säge kannst Du alles schneiden.

Ich:
Was ist denn die „richtige“ Säge?

Coachee:
Naja, eine xy-Säge ist zum Schneiden von ….und eine z-Säge ist dafür da….. (lange und sehr detaillierte Erklärung von Sägen und deren Funktionsweise, Coachee ist echter Fachmann in diesem Gebiet :-))

Ich:
Was denkst Du im Moment zu alle dem?

Coachee:
(denkt lange nach) Es geht darum, die richtige Säge für das jeweilige Holz und den jeweiligen Zweck zu wählen und man muss damit umgehen können. Kunst und Könnerschaft – das ist der Schlüssel…..

Ich:
Kunst und Könnerschaft……..

Coachee:
Ja, wie bei dem Patienten von heute – er ist auch eine bestimmte Art von Holz, das eine bestimmte Art von Säge braucht und ich muss die Säge mit viel Sorgfaltführen……und das hat der Kerl auch verdient! Der ist aus einem besonderen Holz gemacht….. Alles an Kunst und Könnerschaft hat er verdient…….

Ich:
Können wir´s so stehen lassen?

Coachee:
Ja, das passt. Danke!


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1 Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Idiolekt
2,3 Siehe www.idiolektik.de
4 Zusammengefasst vom Trainerteam und Vorstand der Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung GIG 1998, siehe „Schlüsselworte Idiolektische Gesprächsführung in Therapie, Beratung und Coaching“ Seite 248