Heldenreise als Element des narrativen Ansatzes

im Coaching

Abschlussarbeit von Eva Winkel, als PDF lesen


Einführung

Der narrative Ansatz im Coaching basiert auf der Tatsache, dass das Erzählen von Geschichten so alt ist wie die Menschheit selbst. Von Kind an umgeben jeden von uns Geschichten, oft anfangs in Form von Märchen und Sagen. Geschichten – und das Erzählen von Geschichten – begleiten den Menschen sein Leben lang, ganz egal, ob in mündlicher, schriftlicher oder bildlicher Form, und es gibt nichts, was Menschen so bewegen kann wie eine gute Geschichte.
Geschichten sind ein wirkungsvolles Instrument, um komplexe Sachverhalte, Traditionen aber auch gesellschaftliche Regeln und Normen in einer für jeden verständlichen Art und Weise zu vermitteln und auf ihre Essenz herunterzubrechen. Geschichten sind demnach auch das Medium, aus dem der Mensch seine Welt konstruiert und die ihm das Gefühl geben, mit der Welt und anderen Menschen verbunden zu sein und in Kontakt zu stehen.

Coaching basiert auf dem Element des Erzählens als solches. Jeder Mensch besitzt seine ureigene Geschichte, die er erzählen kann und die seine Sicht auf die Welt und die ihn umgebenden Systeme illustriert. Durch die Anwendung des Tools der Heldenreise, die auf der von Campbell entdeckten, universellen Struktur sämtlicher Mythen beruht und die heute das Grundgerüst so gut wie aller erfolgreichen Bücher und Filme dar- stellt, kann sich der Klient im Coaching diese Tatsache vergegenwärtigen: Nämlich dass er selbst der Held seiner eigenen Lebens- bzw. Abenteuergeschichte ist. Diese Heldengeschichte berichtet von all dem, was ein Leben ausmacht und was dem Menschen im Laufe seiner Lebensreise widerfährt: Erfolge, Konflikte, Probleme, Begegnungen und Trennungen. Durch das Erzählen und Ausarbeiten von Geschichten wird komplexes Erfahrungswissen komprimiert und ein neuer Zugang zum individuellen Entwicklungsprozess ermöglicht. Entsprechend stellt das Erzählen der eigenen „Heldensaga“ ein machtvolles Instrument im Coaching dar, das es dem Klienten erlaubt, Probleme oder Strukturen klarer zu sehen, indem er sich mittels seiner Phantasie in die Rolle des Helden versetzt und sich selbst somit von außen bzw. auf der Metaebene der Abenteuergeschichte betrachten kann. Diese Distanzierung vom eig- entlichen Problemgeschehen in der Realität kann dem Coachee dabei helfen, bessere Entscheidungen zu treffen und zugleich seine Selbstwirksamkeit fördern, da er sich somit der Tatsache bewusst wird, dass er als Held seiner eigenen Geschichte – seines eigenen Lebens – schon viele Hürden und Gegner bezwungen und Schätze errungen hat oder noch erringen kann. Die Entstehung, die genaue Struktur und die Anwendung der Heldenreise im Laufe des CoachingProzesses sollen nachfolgend erläutert werden.

Die Heldenreise: Entstehung

Ein besonderes Element des narrativen Ansatzes im Coaching ist die sogenannte Heldenreise.
Sie basiert auf den Erkenntnissen von Joseph Campbell, der als Forscher im Bereich Vergleichende Mythologie in seinem Buch „The Hero with a Thousand Faces“ 1949 feststellt, dass sämtliche Mythen und Sagen der Menschheit eine gemeinsame Grundstruktur aufweisen. Diese Struktur bezeichnet er als „the Hero’s Journey“, also die Reise des Helden, und er zeigt auf, dass sie in ihrem Ablauf mit den einzelnen Etappen des Abenteuers, die der Held zu bestehen hat, und der damit einhergehenden Transformation des Protagonisten die Basis sämtlicher Mythen bildet – und zwar völlig unabhängig von der jeweiligen Kultur oder zeitlichen Epoche. Dementsprechend nennt er dieses universell vorliegende Grundgerüst von tradierten Geschichten auch den „Monomythos“ oder den „archetypischen Mythos“ der Menschheit.
Campbells revolutionäre Erkenntnisse hatten und haben weitreichenden Einfluss auch auf unzählige andere Forschungsdisziplinen; ihre immense Bedeutung reicht von Anthropologie, Religionswissenschaft und Psychologie bis hin zu Literatur- und Filmwissenschaft.
So ist es diese Grundstruktur der ursprünglich mythischen Heldenreise, die, in zeitgenössischer visueller oder schriftlicher Umsetzung, auch einer langen Reihe von erfolgreichen Filmen und Büchern zugrunde liegt. Elemente davon lassen sich in quasi sämtlichen Geschichten, die Menschen faszinieren und immer schon fasziniert haben, wiederfinden.
Aber nicht nur für Film- oder Literaturanalyse, sondern auch im Bereich der Psychologie spielt der Monomythos eine entscheidende Rolle. Mythen illustrieren auf symbolische Weise die unbewussten Wünsche, Ängste und Probleme, die dem bewussten Verhalten von Menschen zugrundeliegen. Im Rahmen von psychologischer Arbeit können diese quasi „zurückübersetzt“ werden, so dass sich die wahren, unbewussten Bedeutungen manifestieren und dann analysieren und lösen lassen. Dies gilt auch und besonders für die Nutzung der Methode der Heldenreise im Coaching – auch hier dient die Grundstruktur von Mythos oder Heldengeschichte dazu, dem Klienten Klarheit über seine Identität, sein Inneres und somit über seinen bereits beschrittenen Weg, die aktuellen Probleme und die noch vor ihm liegenden Herausforderungen zu verschaffen.

Propps Morphologie des Märchens

Schon vor Campbell beschreibt Vladimir Propp, ein russischer Märchenforscher, in seinem Werk „Morphology of the Folktale“ (1928) eine ähnliche Entdeckung in Bezug auf Märchen. Anhand eines untersuchten Korpus von 100 russischen Zaubermärchen konstatiert er, dass die große Mehrheit von Märchen ebenfalls einer einheitlichen Struktur folgt und dass bestimmte Elemente der Handlung immer wiederkehren.

Propp ordnet in seiner Arbeit die Märchen verschiedenen thematischen Klassen zu, aber darüberhinaus nimmt er auch eine Strukturierung in Bezug auf die eigentliche Handlung innerhalb der Geschichte vor. Er bezeichnet diese einzelnen Versatzstücke des Plots als „Funktionen“, die der Protagonist des Märchens erfüllt und die den Handlungsverlauf eines Märchens bestimmen. Anhand einer Liste von 31 unterschiedlichen Beispielen für Funktionen kommt er zu dem Schluss, dass diese zum einen bei verschiedenen Märchen nicht immer in der gleichen Reihenfolge auftreten müssen. Zum anderen macht er die Entdeckung, dass die Funktionen zwischen einzelnen Märchen ausgetauscht werden können, ohne eine gravierende Änderung im Gesamtplot zu bewirken. Und schließlich stellt er fest, dass sich Märchen auf der ganzen Welt in genau diesen essentiellen Strukturen und Funktionen ähnlich sind.

Diese Erkenntnis geht in die Richtung dessen, was Campbell später in Bezug auf den Monomythos eruiert hat. Propp erklärt selbst, dass ein Märchen auf morphologischer Basis einen Mythos darstellt. Im Unterschied zu dem mythischen Helden, der einen übergeordneten, die ganze Welt bewegenden Sieg erringt, ist der Triumph des Märchenheldens aber eher in seinem persönlichen Mikrokosmos angesiedelt. Aufgrund der erkennbaren Ähnlichkeit von Märchen weltweit und ihrer Nähe zu Mythen schlussfolgert Propp, dass die einfachen und austauschbaren Basiselemente der Geschichten auch psychologisch so etwas wie eine gemeinsame Wurzel darstellen müssen. Dies erörtert auch Campbell genauer, und eben deshalb weisen die Elemente der Heldenreise und auch die von Märchen so eine herausragende und allgemein verständliche Bedeutung auf und können im Coaching genutzt werden.

Der Ablauf der Heldenreise nach Campbell

Campbell erläutert, dass die Heldenreise eine erweiterte Form der Grundstruktur eines Initiationsritus darstellt. Dieser besteht immer aus den drei Hauptabschnitten Trennung, Initiation und Rückkehr, die man hier auch als den Kern des Monomythos bezeichnen kann. Die gewohnte Welt, in der der Held bisher gelebt hat, wird erst dekonstruiert und nach den lebensverändernden Erkenntnissen, die er im Laufe seines Abenteuers in einer mythischmagischen anderen Welt gewinnt, wieder in besserer, klarer Form rekonstruiert.
Die drei Hauptstufen des Initiationsritus lassen sich in weitere kleinere Unterabschnitte gliedern und bilden in ihrer Gesamtheit den zirkulären Ablauf der Reise. Dabei überschreitet der Held im Laufe seiner Erlebnisse zwei Mal die sogenannte Schwelle des Abenteuers („Threshold of Adventure“), die ihn aus seiner gewohnten Alltagswelt in die andere, bisher unbekannte Welt führt, in der er seine Prüfungen und Gefahren bestehen muss und die er am Ende mit der errungenen Belohnung wieder verlässt.
Die erste große Stufe, die der Trennung und des Aufbruchs, beginnt in der normalen Welt des Helden mit dem Ruf des Abenteuers bzw. der Erkenntnis, dass der Protagonist zu etwas Außergewöhnlichem berufen ist. Überrascht und überfordert, verweigert er sich anfangs diesem Ruf. Daraufhin taucht ein – sehr oft übernatürlicher – Helfer auf, der den Helden unterstützt und ihm seinen Weg weist. An dieser Stelle überquert der Protagonist schließlich zum ersten Mal die Schwelle zur fremden Welt des Abenteuers und beginnt seinen Weg ins Unbekannte. Die nächste Hauptstufe des Initiationsritus, die der Prüfungen und des letztlichen Sieges, spielt sich gänzlich in der anderen, ungewohnten Welt ab. Der Held wird mit einer Reihe von Prüfungen und Bewährungsproben konfrontiert und lernt im Rahmen des Mythos auch die gefährliche Seite des Übernatürlichen kennen. Dabei findet er meist Verbündete und Helfer auf seinem Weg, sieht sich Versuchungen ausgesetzt und trifft auf mächtige Feinde. Schließlich, nach der entscheidenden Prüfung, erlangt der Protagonist die ersehnte Belohnung bzw. den wie auch immer gearteten Schatz.
Die dritte und letzte Stufe beschreibt die Rückkehr des – durch seine Erfahrungen veränderten – Helden und seine Reintegration in die Gesellschaft. Der Held flieht mit seinem Schatz und muss dann erneut die Schwelle des Abenteuers überschreiten, um wieder in die Alltagswelt zurückzukehren. Dabei ist, wie schon zu Anfang, die erneute Überquerung dieser Schwelle mit Problemen und anfänglicher Verweigerung verbunden. Zurück in der normalen Welt erlebt der Protagonist seine ‚Auferstehung‘; sowohl persönlich als auch in den Augen der Gesellschaft. Am Ende kehrt er mit der erkämpften Belohnung zurück, die im Mythos dem Wohl der gesamten Gesellschaft dient und diese zum Positiven verändert. Zugleich hat es der Held geschafft, beide Welten in sich zu vereinen und in Einklang zu bringen.
Der Kreis der Heldenreise, der die unveränderliche Norm des Monomythos darstellt, hat sich somit geschlossen. Der Protagonist ist nicht mehr dieselbe Person, die zu ihrer Reise aufgebrochen ist, sondern er kommt innerlich verändert, gereift und gestärkt von seinem Abenteuer zurück.

Anwendung des Tools der Heldenreise im Coaching

Die Heldenreise als Methode ist dank ihrer Vielschichtigkeit und da sie universell gültige Muster beinhaltet, im Coaching höchst flexibel einsetzbar – sie eignet sich für das Coaching von Einzelpersonen genauso wie für Gruppencoaching. Zudem kann sie sowohl im Bereich des Life-Coachings, als auch des Business Coachings angewandt werden.
Erzählungen, Mythen und Sagen bilden von jeher ein identitätsstiftendes Element für Individuen und Gruppen und bieten sich deshalb auch an, um an und mit der jeweiligen Identität zu arbeiten. Zugleich verdichtet und komprimiert eine Geschichte komplexes Wissen und liefert somit einen Zugang und eine Form von „Anleitung“ zu persönlichen Entwicklungs- und Veränderungsprozessen.
Auch eine Coaching-Sitzung besteht zum Großteil aus dem Bericht und dem Erzählen des Klienten, der seine Probleme und deren gesamten systemischen Kontext schildert. Erzählungen und der Vorgang des Erzählens an sich sind ein essentieller Bestandteil des Systemischen Coachings, das sich diverser narrativer Techniken bedient. Entsprechend liegt es nahe, auch die Arbeit an der Identität und der persönlichen Entwicklung des Klienten mittels des methodischen Ansatzes von Geschichten bzw. konkret der Heldenreise zu gestalten.

Campbells Analyse der Heldenreise verläuft mit ihrer Vielzahl an Unterpunkten äußerst ausführlich. Innerhalb des Coachings kann sie jedoch auch in etwas gestraffter Form dargestellt werden. Der Coach kann sich, je nach Situation, zum Beispiel auf die übergeordneten Schritte konzentrieren. Diese bilden dann den etwas vereinfachten Plot, der den meisten Menschen aus Literatur und Filmen bekannt ist, und lassen sich unter folgenden Phasen der Reise subsumieren:

Der Ruf des Abenteuers, gefolgt von dem Aufbruch ins Unbekannte und den daraufhin folgenden Prüfungen und Versuchungen. Der Protagonist erlangt schließlich erfolgreich seine Belohnung bzw. Schatz, ehe sich der Kreis mit der Rückkehr des Helden schließt. Da dieses Muster innerhalb von Heldengeschichten quasi jedem Menschen zumindest unbewusst vertraut ist, liegt dem Coach hier ein flexibles Grundgerüst vor, das sich erstens auf unzählige Problemstellungen anwenden lässt. Zweitens kann es je nach Thema und Situation in Bezug auf die Zahl und Ausführlichkeit der einzelnen Etappen und die möglichen Unterpunkte (anfängliche Verweigerung des Helden; verschiedene Helfer etc) erweitert und angepasst werden. Genauso können zusätzliche, dem Hauptzyklus untergeordnete Handlungsschleifen innerhalb des Musters bearbeitet und eruiert werden, wenn sich im Rahmen des Coachingprozesses noch weitere Problemstellungen manifestieren.


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