Glaubenssätze sozialer Systeme

entschlüsselt mit Axiomen und Methoden des NLP

Abschlussarbeit von Dr. Wibke Harnischmacher, als PDF lesen


Einführung

Die Wahrheit ist irgendwo da draußen

ist ein zum geflügelten Wort erhobenes Zitat aus der US-amerikanischen Mystery-Serie „Akte X – die unheimlichen Fälle des FBI1.

Vorgebracht wird dieser Satz (abgesehen von seiner Einblendung im Vorspann) immer wieder an solchen Stellen der seriellen Erzählung, an dem das FBI-Agenten-Duo um Fox Mulder und Dana Scully einer verborgenen Wahrheit auf der Spur sind, die jeweils untersuchten Phänomene und Ereignisse allerdings nicht aus sich selbst heraus oder mit Hilfe ihrer eigene Ermittlungsmethoden beschreiben oder erklären können.

Der tendenziell eher kreative, unkonventionelle bisweilen auch leichtgläubig wahrgenommener Part des Ermittler-Duos, FBI-Agent Mulder, nutz den Satz, um seiner eher rationaler orientierten Ermittlungspartnerin, FBI-Agentin Scully, sein ‚Wissen‘ um eine (meist freilich mysteriös erscheinende) Erklärung nahe zu bringen.

Es ist seine Version von

Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt
(Shakespeare, Hamlet I,5).

Die Wahrheit ist irgendwo da draußen.“ beschreibt zugleich gut die in Coaching-Prozessen häufig zu Beginn wahrzunehmende Einschätzung von Klienten, die sich eines individuellen Problems sehr wohl bewusst sind, die passende(n) Lösung(en) aber hauptsächlich in den Kompetenz- und Verantwortungsbereich eines Gegenübers (der systemischen Umwelt oder auch möglicher Berater*innen) verorten.

Demgegenüber stehen einige zentrale Grundannahmen des NLP, in erster Linie:

Jeder besitzt zumindest unbewusst alle Ressourcen, die er oder sie benötigt.2

was als Axiom deutlich die Handschriften Virginia Satirs und Milton Ericksons trägt, deren Arbeit konsequent darauf abzielte, jene Ressourcen herauszuarbeiten, die dem Klienten bewusst (noch) nicht zu Verfügung stehen3 – und das lange bevor es das Wort „Coaching“ überhaupt gab.

Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, sich dies kreativ zu Nutze zu machen:

Auf den Spuren von Mulder und Scully gilt es, ein größeres soziales System als ‚Tatort‘ in Augenschein zu nehmen und der Frage nachzugehen, ob und inwiefern sich ein komplexes System als Coachee betrachten lässt.

Tradierte Ansätze der Führungs- und Managementlehre kommen hierbei ebenso auf den Prüfstand wie Niklas Luhmanns Begriff und Vorstellung der ‚Autopoiesis‘ in größeren sozialen Kontexten.

Anhand der Dilts-Pyramide soll der Stellenwert von Glaubenssätzen in sozialen Systemen herausgearbeitet werden. Um dabei immer wieder einen konkreten Praxisbezug zu gewährleisten, wird das Fallbeispiel einer weiterführenden Schule in einer größeren Ruhrgebietsstadt gewählt.

Führungslehre = Führungsleere?

Klassische Ansätze von Führung unterscheiden zwischen Leadership und Management.4

Während Leadership die Ebene des persönlichen, kommunikativen, emotionalen Austauschs zwischen Führungsebene und Ebene der Geführten betont, ist es im Management insbesondere die operative Ebene des Tagesgeschäfts, die strukturiert, reibungslos, effizient erfolgen soll. Beide ergänzen sich.

Beide Führungsaufgaben gehen ab einer gewissen Größe von Unternehmen so auch im deutschen Schulsystem trotz weiterer Entwicklungen (so zum Beispiel im Ansatz des ‚agilen‘ Führens, der Anwendung Scrum-Methode o.Ä.) immer noch recht eindeutig von einer Top-Down-Mentalität in Unternehmen aus.

Dies ist historisch gewachsen sowie durch das in Schulen vorherrschende Berufsbeamtentum zweifellos stabilisiert.

Klassische Behandlungen des Themas5 verdeutlichen die Rolle der Unternehmens-/Schulleitung.

Sie allein – so wird vorausgesetzt – kann eine ganzheitliche Betrachtung des Unternehmens und aus dieser Warte aus auch eine ganzheitliche Planung vornehmen.

Die Ziele der Gesamtplanung werden an untergeordnete Stellen weitergegeben, bei denen die Gesamtplanung in weitere Teilplanungen aufgegliedert wird.

Der Ansatz hat zweifellos seine Berechtigung. In gut eingespielten Arbeitsprozessen kann davon ausgegangen werden, dass durch eine routinierte Führung ‚von oben‘ alle bedeutsamen strategischen Schritte für das Wohl des Unternehmens in den Blick genommen und unternommen werden.

Bei Unternehmens-externen Schocks jedoch – sei es durch den plötzlichen Austausch der Führungsriege oder eine sich abrupt ändernde Umwelt – gerät dieser Prozess ins Stocken.

Die vermeintlich routinierten Arbeitsschritte funktionieren nicht mehr, Individuen, die in solchen Prozessen arbeiten sind im höchsten Maße verunsichert und beginnen daraufhin die ganze Unternehmenszielsetzung und –kultur zu hinterfragen bzw. in Frage zu stellen.

Diese Phase ist entweder der Moment, in dem eine Neuausrichtung erfolgt oder das Unternehmenskonzept nicht mehr funktioniert und kurz oder mittelfristig zum Scheitern verurteilt ist.

Im unternehmerischen Sinne ist dies gleichzusetzen mit der Unternehmensauflösung. Im schulischen Kontext erfolgt dieser Auflösungsprozess durch das Eingreifen von Schulaufsicht und –Trägerschaft meist weniger abrupt, ist aber nicht weniger schmerzhaft.

Will eine Schule sich aktiv mit ‚ihrem Schicksal‘ auseinandersetzen, bedarf es einiger Fähigkeiten und Schritte, die im Folgenden beleuchtet werden sollen.

Zunächst einmal ist jedoch zu klären, inwiefern sich die Wesensmerkmale einer Schulen dazu eigenen, die Schule im Ganzes als Akteur, mithin als ‚Soziales System‘ im soziologischen Sinne wahrzunehmen.

Autopoiesis sozialer Systeme

Die Soziologie hat den Begriff der Begriff Autopoiesis dem Fachbereich Biologie6 entnommen.

Der aus dem Griechischen entlehnte Begriff bedeutet ‚Selbstgestaltung‘ oder auch ‚Selbsterzeugung‘.

Der Soziologe Niklas Luhmann hat hier maßgebliche Beobachtungen gemacht und formuliert7, andere folgten ihm hierin und führten seine Forschungsergebnisse weiter.

Einen Eindruck gängige Definitionen vermitteln Original-Zitate, zum Verständnis ist Bedeutsames im Fettdruck hervorgehoben:

Die Einheit, die ein Element, ein Prozeß, ein System für sich selbst ist. »Für sich selbst – das heißt: unabhängig vom Zuschnitt der Beobachtung durch andere.
(Luhmann, 1991, S.58).

Als autopoietisch können daher

sämtliche stabilen, langlebigen Systeme [verstanden werden], die neue Fähigkeiten ausbilden können, um sich geänderten Bedingungen anzupassen.
(Ampofo 2018, S.26).

Demnach sind autopoietische Systeme

offen für das Erfassen von komplexen und kontingenten Ereignissen im Umfeld. Da sie dies aber nach eigenen Gesetzen machen […] gefährdet die Auseinandersetzung […] mit der umgebenden Komplexität […] nicht die eigene Autonomie, sondern stärkt diese.“
(ebd., S. 27).


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Quellen bis hierher
1 „The X-Files“ ist der Originaltitel einer US-amerikanische Fernsehserie, die in den Jahren 1993 bis 2002 (und mit Widerauflagen resp. Fortsetzungen 2016 und 2018) ausgestrahlt wurde. Durch die Verknüpfung von Fantasy-, Science-Fiction- und Horror-Elementen gilt die Serie als ein wichtiger Vorläufer des jüngeren SerienMystery-Genres.
2 Inkonstellation-Skript zur NLP-Practitioner Ausbildung, S. 18.
3 Vgl.: Dannemeyer / Dannemeyer 2016, S. 55.
4 Da es im weiteren Verlauf der Arbeit um das Fallbeispiel einer weiterführenden Schule geht, ist als typisches Exempel im Bereich der Schulentwicklung besonders Dubs 2019 hervorzuheben.
5 Vgl. für eine graphische Übersicht etwa https://www.bwl-lexikon.de/wiki/top-down-planung/ (Zugriff: 13.03.2022).
6 Zu nennen sind hierbei insbesondere die Arbeiten der chilenischen Biologen Maturana und Varela, die zu Beginn der 1970er Jahre erstmals eine strenge Definition des Lebens liefern.
7 Nicht immer einfach, möchte man hinzusetzen, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=TSa3PXSPcrg (Zugriff: 09.01.22): Die verschachtelte Ausdrucksweise Luhmanns erinnert den Urheber des ‚Erklärvideos‘ an die Existenz Außerirdischer. Wenn man hinzunimmt, dass Luhmann bis 1993 an der Universität Bielefeld lehrte (das bekanntlich nicht existiert), gibt es für Mulder und Scully noch Einiges zu tun… :)