Gendlins Focusing

oder der Klient als Coach

seiner Netzwerke des Erlebens

Abschlussarbeit von Florian Nelle, als PDF lesen


Einleitung

Eugene Gendlin war in den fünfziger Jahren Forschungsdirektor am Institut von Carl Rogers.

Seine Aufgabe war es herauszufinden, warum Psychotherapie einigen Patienten half und anderen nicht, und dabei machte er eine erstaunliche Entdeckung.

Er war nach einiger Zeit in der Lage vorherzusagen, ob ein Patient eine Chance auf Heilung hatte oder nicht.

Und zwar allein, indem er das Audioband der ersten Therapiestunde abhörte. Er hatte ein Muster gefunden.

Heilungschancen hatten Patienten, die nach Worten suchten und sich dabei auf Körperempfindungen bezogen.

Hoffnungslose Fälle waren alle, die ihre Probleme ohne Zögern und Stottern klar schildern und analysieren konnten – auch wenn sie dabei heulten oder zusammenbrachen.

Rationales Verstehen der Probleme brachte keine Heilung, Emotionalität ebenso wenig.

Nur wer bei der Schilderung seiner Probleme einen Bezug zum eigenen Körpergefühl herstellen konnte, hatte Heilungschancen.

Auf der Grundlage dieser Entdeckung entwickelte Gendlin seine klienten- und erlebniszentrierte Psychotherapie – die „clientcentered and experiential psychotherapy.“1

Die Aufmerksamkeit (Focusing) auf das körperliche Erleben wurde dabei zum zentralen Element von Therapie, Selbsthilfe und der später daraus abgeleiteten Methode für kreatives Denken (Thinking at the edge).

Als Gendlin 1978 seine Methode einem größeren Publikum vorstellte, wurde sein Buch Focusing zum internationalen in 12 Sprachen übersetzten Bestseller.

Die darin vorgestellte körperzentrierte therapeutische Technik füllte eine Lücke.

Auf der einen Seite standen die analytisch-kognitiven Verfahren in der Nachfolge von Freuds psychoanalytischer „Redekur“.

Auf der anderen die körpertherapeutischen Verfahren in der Tradition von Wilhelm Reich. Ihm zufolge manifestierten sich seelische Probleme in muskulären Verspannungen2.

Den so gebildeten Charakterpanzer suchte er durch eine „Vegeto-Therapie“ aufzulösen, die aus Atemübungen und direkten körperlichen Manipulationen bestand und deren Ziel es war, dem Patienten wieder Zugang zu seiner ursprünglichen orgasmischen Lebensenergie zu verschaffen.

Gendlin öffnete einen dritten Weg.

Er führte den Klienten in ein Zwiegespräch mit seinen Prozessen körperlichen Erlebens – Ron Kurtz Hakomi basiert ebenso darauf wie Peter Levines Somatic Experiencing und andere Therapieformen, die daraus entstanden.

Die besondere Form des von Gendlin beschriebenen inneren Dialogs und der Aufmerksamkeitsfokussierung machen ihn heute aktueller denn je.

Das macht seine Methode auch interessant für systemisches Coaching.

Gendlins Aktualität – das klienten- und körperzentrierte Ideal

Gendlin verstand seine Entdeckung als Demütigung des therapeutischen Selbstverständnisses.

Die Heilung der Patienten verdankte sich nicht etwa den Fähigkeiten des Therapeuten.

Vielmehr brachten die „Klienten“ alles schon mit, was sie für ihre Heilung oder zur Lösung ihrer Probleme benötigten – wenn sie denn ihre Aufmerksamkeit richtig fokussierten.

Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelte Gendlin sein Focusing – eine Therapie- und Selbsthilfemethode des „In-Sich-Hineinhorchens“.

Ziel dieses „inneren Akts“ war es, die Klienten in Kontakt mit ihren Körperempfindungen zu bringen, die Gendlin als eine Art Vorbewusstes ansah.

Viele Leute können mit ihren Gefühlen in Berührung kommen – doch was dann?

„Sie spüren zwar ihre Gefühle, doch diese ändern sich nicht. Focusing ist der nächste Schritt nach der Kontaktaufnahme mit den eigenen Gefühlen. Er weckt eine neue Art innerer Aufmerksamkeit“ (Gendlin 1981, S.19)

Sie zielt darauf ab, einem schwer fassbaren, vagen Gefühl von Wissen Bedeutung und Worte zu verleihen und so einen „Prozeß der persönlichen Veränderung“ (Ebd. S. 21) einzuleiten.

Gendlin verband diese Methode mit einem tiefgreifenden Respekt vor der Autorität des Klienten. (Ebd., S. 18)

Der Autoritätsaspekt des Arztes war der persönlichen Veränderung nie besonders förderlich.

„Ein Arzt kann einen Patienten von einer körperlichen Krankheit heilen. Seelische Probleme sind aber ihrem Wesen nach so, daß nur wir selbst sie lösen können. Kein Fachmann kann unsere Probleme lösen.“

So trägt der Klient bei Gendlin alles in sich, was er zu seiner Heilung braucht. Diese Vorstellung ist im heutigen Coaching selbstverständlich geworden.

Steve de Shazers lösungsfokussierte Kurzzeittherapie, systemisches Coaching, der hypnosystemische Ansatz Gunther Schmidts – sie alle gehen davon aus, dass der Klient die Ressourcen zur Lösung seiner Probleme bereits in sich trägt.

Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts war das keineswegs selbstverständlich.

Gendlin war ein Pionier. Seine Methode machte den Klienten zum Therapeuten.

Aber auch der Gegenstand dieser therapeutischen Intervention hat vor dem Hintergrund der neueren Hirnforschung an Aktualität gewonnen.

Alonso Damasio hat in Descartes Irrtum 1994 gezeigt, dass die Körperwahrnehmung den Hintergrund aller emotionalen und verstandesmäßigen Prozesse darstellt.

Mit dem Focusing erkundet der Klient die „implizite Komplexität“ (Gendlin) dieses Spürens und Erlebens.

Es gibt eine Antwort auf die Frage, wie wir uns im Coaching den Wechselwirkungen von Verstand, Gefühl und Körperwahrnehmung nähern können und macht zugleich den Klienten zum Coach seiner eigenen „Netzwerke des Erlebens“, um hier den Ausdruck von Gunther Schmidt zu verwenden.

Systemisches Coaching und der Körper

Systemisches Coaching beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen in komplexen Systemen.

Systemen also, in denen die Folgen kleiner Veränderungen und Unterschiedsbildungen nicht genau vorhergesagt werden können.

Teil solcher Systeme ist der Mensch in seiner Interaktion mit anderen Menschen in Familie und Beruf.

In der klassischen Systemtheorie ging man davon aus, dass sich mit den Interaktionsmustern im System auch das Individuum ändern würde.

Das funktioniert aber nur sehr begrenzt, denn das Individuum ist in sich bereits ein System von atemberaubender Komplexität, das einer individuellen Aufmerksamkeit bedarf.3

Es gibt viele Möglichkeiten, die Besonderheit eines komplexen Systems anschaulich darzustellen.

Ich zitiere gerne meinen belgischen Ostheopathen, seinerseits Ausbilder und ein Meister seines Faches.

Er beendet jede Behandlung mit den Worten.

Müssen wir mal abwarten, wie der Körper in den nächsten Tagen und Wochen reagiert.

Ziel seiner sanft-zärtlichen bis tatkräftigen Manipulationen und Interventionen ist es, einen Prozess in Gang zu setzen, der die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert und dem natürlichen Streben des Körpers, in die Balance zu kommen, einen Weg zu bahnen.


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Quellen bis hierher
1 Gendlin, E.T. (1974). Client-centered and experiential psychotherapy. In D.A. Wexler & L.N. Rice (Eds.), Innovations in client-centered therapy, pp. 211-246. New York: John Wiley & Sons. From http://previous.focusing.org/gendlin/docs/gol_2118.html
2 ,,Die gesamte Erlebniswelt der Vergangenheit lebt in der Form der charakterlichen Haltung in der Gegenwart. Das Wesen eines Menschen ist die funktionelle Summe aller vergangenen Erlebnisse”. Wilhelm Reich – Die Funktion des Orgasmus 1977, S.113
3 Vgl. G. Schmidt, Grundkurs Hypnosystemisches Coaching, Auditorium Verlag 2019 (DVD).
4 Allerdings gibt es auch Vertreter im systemischen Coaching, die in der Folge Steve de Shazers Hypothesenbildung gänzlich ablehnen und verlangen, man müsse jede Hypothese sofort „loslassen“ oder alternativ den
Coaching Beruf aufgeben. Vgl. Sonja Radatz: Einführung in das systemische Coachjng. Heidelberg 2010, S. 31