Ganzheitliche Achtsamkeit

– eine Selbsterfahrung –

Abschlussarbeit von Cornelia Höschler, als PDF lesen


Was…, wenn …

Vor wenigen Wochen habe ich mir selbst die hypothetische Frage gestellt, ob ich die Ausbildung zum systemischen Coach bei InKonstellation im Juni 2020 auch begonnen hätte, wenn ich gewusst hätte, welche Herausforderungen ab August 2020 auf mich zukommen.

Und ich habe mir – ohne zu zögern – geantwortet:

Auf jeden Fall!

So, wie mir Weine am besten in großen Schlucken und Spaghetti am besten in großen Bissen schmecken, schmeckt mir das Lernen wohl am besten,  wenn es mit großen Emotionen einhergeht.

Die Kopfentscheidung

Im April letzten Jahres stellten mir nahezu zeitgleich meine Frau, eine gute Freundin und eine Kollegin mit Durchblick, die ich sehr schätze, die Frage, wann ich denn endlich mal „dran“ wäre.

Ein bisschen überrumpelt von der geballten Ladung, aber letztlich nicht unvorbereitet – tatsächlich hatte sich, von mir unbemerkt, diese Frage auch schon in meinem Kopf breitgemacht – kam mir meine Idee, eine Ausbildung zum systemischen Coach zu machen, wieder in den Sinn.

Ich suchte im Internet nach Ausbildungsgängen in Wohnortnähe. Sehr schnell stieß ich dabei auf den Internetauftritt von InKonstellation.

Aufgrund der darin vorgestellten Lerninhalte war ich sofort sicher, dass ich diese Ausbildung machen wollte.

Also meldete ich mich an.

Die Bauchentscheidung

Vor mehreren Jahren hatte ich begonnen, mich mit ganzheitlicher Achtsamkeit und insbesondere den Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation (im Folgenden GFK) nach Marshall Rosenberg zu beschäftigen.

Der Wunsch, durch den Paradigmenwechsel mehr Frieden in mein Leben zu bringen, indem ich meine Gefühle und die dahinter liegenden Bedürfnisse kennenlernte, war geweckt worden:

Und tatsächlich machte ich sehr rasch die Erfahrung, wie wohltuend und befreiend es ist, auf die üblichen Bewertungen, Be- oder Verurteilungen von anderen Menschen zu verzichten und stattdessen einfach nur zu beobachten, was passiert.

Plötzlich war ich nicht mehr nur auf Autopilot, sondern konnte entscheiden, ob das Verhalten eines anderen etwas mit mir zu tun hat oder nicht (was in der Tat nur sehr selten der Fall ist).

Ich wurde zunehmend neugierig darauf, was Menschen im Allgemeinen und mich im Besonderen dazu bewegt, uns so zu verhalten, wie wir es tun.

Ein 11-wöchiger Basiskurs in ganzheitlicher Achtsamkeit mit Peter Beer von der Achtsamkeits-Academy öffnete mir den Blick auf mein inneres Erleben in einer Weise, die mich sehr bewegte und in Bewegung brachte.

Diesen Weg will ich weitergehen und möglichst auch andere Menschen mitnehmen.

Die Herausforderungen

Die schwere Erkrankung meiner Mutter, in die ich seit August 2020 als Tochter und offizielle Vorsorgebevollmächtigte intensiv eingebunden war, weckte starken Ängste und eine tiefe Traurigkeit in mir.

Die bürokratischen Hürden, pflegerischen Unzulänglichkeiten, der organisatorische Zeitdruck und die zunehmende Hilflosigkeit meiner bis dahin so starken Mutter, denen ich dabei täglich begegnet bin, haben mich stark gefordert und mitunter überfordert.

Meine Mutter ist nach Fertigstellung dieser Arbeit am 12.01.2021 verstorben.

Der Konstruktivismus

Das Insel-Modell

Bereits im ersten Modul wurden wir mit der Idee des Konstruktivismus bekannt gemacht, wonach hinter jedem Verhalten eine gute Absicht steckt.

Ähnliches hatte ich doch schon mal gehört!

Die GFK erklärt es so, dass jede Kommunikation dazu dient, ein Bedürfnis zu erfüllen.

Die gute Absicht entspricht also der Erfüllung eines Bedürfnisses. Daran ist nichts auszusetzen, denn Bedürfnisse sind universell, alle Menschen haben sie, sie verbinden uns mit dem Leben.

Den Unterschied macht nur das dazu an den Tag gelegte Verhalten bzw. die Art der Kommunikation, also die Strategie, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen.

Das Insel-Modell zeigt sehr anschaulich, dass jeder auf seiner Insel lebt und sein von eigenen Erfahrungen, gesellschaftlichen Regeln, hierarchischen Vorgaben und transgenerationalen Ängsten geprägtes Verhalten für normal hält.

Erst der Kontakt mit einer „fremden“ Inselwelt, auf der die Bewohner durch andere Erfahrungen, Regeln, Vorgaben und Ängste eine andere Prägung erhalten haben, kann eine Änderung bewirken.

Voraussetzung ist eine Haltung, die Interesse für die fremde Inselwelt hat und bereit ist für ein Unterschiedserleben.

Die Trennung von Absicht (Bedürfnis) und Verhalten (Strategie) ist also die erste Möglichkeit, aus dem unbewussten Kreislauf von Reiz (Erleben) und Reaktion (Verhalten, das zu einem Ergebnis führt) auszusteigen und stattdessen bewusst etwas zu verändern

Hier spielen die Komponenten Gedanken/Bewertungen/Interpretationen und Gefühle eine ganz wesentliche Rolle.

Peter Beer macht in seinem Basiskurs zur ganzheitlichen Achtsamkeit immer wieder deutlich, dass wir nicht unsere Gedanken sind.

Wir sind stattdessen das Bewusstsein, das unsere Gedanken beobachten kann.

Es geht also um Bewusstsein, das Klarheit, Konzentration und Frieden erfordert mit dem, was ist.

Es geht darum, nicht mehr unbewusst von seinen Gedanken gesteuert zu werden, sondern diese bewusst zu hinterfragen und zu lenken.

Hierfür ist die Vorstellung hilfreich, dass Gedanken lediglich Angebote sind, die uns unser Gehirn – ähnlich einem Algorithmus – automatisch auf der Basis des Gewohnten und Bekannten macht.

Nimmt man diese gewohnten Angebote bewusst nicht einfach an, sondern prüft sie darauf hin, ob sie Gelassenheit, Frieden und Freude ins Leben bringen, verändern sich die Gedanken und die daraus resultierenden Gefühle und es entstehen neue Möglichkeiten des Verhaltens und des damit einhergehenden Ergebnisses, was wiederum zu einem anderen Erleben führt.

Gerade im Kontakt mit meinen starken Ängsten und der tiefen Traurigkeit, aber auch mit den vielen ärgerlichen Gedanken über die vermeintlichen Fehler anderer Menschen, die mich tagsüber begleiteten und nachts oft aufwachen ließen, waren die Bewusstseinsübungen und die geführten Meditationen von existenzieller Bedeutung.

Die Erfahrung, dass ich nicht alles glauben muss, was ich denke, sondern dass ich mich entscheiden kann, welche Gedanken ich denke, hat mir meine Handlungsfähigkeit, meine Konzentration und meinen Schlaf zurückgegeben.

Die Erfahrung, dass meine Gefühle, auch wenn ich sie als unangenehm erlebe und lieber nicht haben will, sicher sind und auch nur kurze Zeit andauern, wenn ich sie so annehme, wie sie gerade sind, um dann von anderen Gefühlen abgelöst zu werden, war enorm wertvoll und hilfreich.

Der Satz des Therapeuten und Prozessbegleiters Werner Bock:

Was ist, darf sein, und was sein darf, kann sich verändern“,

den ich über die GFK kennengelernt habe, wurden ein Mantra für mich.

Nach und nach veränderte sich meine Haltung gegenüber den Menschen, die sich nicht so verhielten, wie ich es gerne gehabt hätte, und ich wurde auch mit mir selbst verständnisvoller, wenn wieder meine Gedanken-Ambivalenz gegenüber meiner Mutter die Oberhand gewinnen wollte.

Die Trennung von Absicht (Bedürfnis) und Verhalten (Strategie) ist auch eine wesentliche Voraussetzung für die Arbeit als Coach, weil sie es ermöglicht, eine wertschätzende Haltung gegenüber dem Klienten einzunehmen.

Mit allem, was er tut, verfolgt der Klient eine gute Absicht, versucht er, ein unerfülltes Bedürfnis zu stillen.

Dass seine – zumeist unbewusst – gewählte Strategie nicht zum Erfolg geführt hat – andernfalls würde er kein Coaching anstreben -, ist für die wertschätzende Haltung des Coachs unerheblich.

Die Trennung von Absicht (Bedürfnis) und Verhalten (Strategie) führt darüber hinaus zu einer neugierigen und interessierten Haltung des Coachs hinsichtlich der Erlebenswelt des Klienten.

Sie ermöglicht es, Fragen zu stellen statt (eigene) Lösungen anzubieten, den Blick auf die Ressourcen und die Zukunft statt auf die Probleme und die Vergangenheit des Klienten zu richten und ihm dadurch die Unterstützung zu geben, die er braucht, um die Verantwortung für sein Ergebnis übernehmen zu können.

Die Wirklichkeitskonstruktion

Die Theorie des Konstruktivismus besagt auch, dass es keine eine Wirklichkeit gibt.

Wirklichkeit und Wahrheit existieren nicht unabhängig von Menschen, die an sie glauben.

Jedes Individuum erzeugt seine Wirklichkeit selbst.

In Systemen entsteht diese durch die Interaktion der Mitglieder.

Jede Aussage über die Welt ist deshalb in erster Linie eine Aussage über den Beobachter, der diese Aussage macht.

Die Offenheit für die Wirklichkeitskonstruktion des Klienten gehört damit zur Grundhaltung eines Coachs.


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