Bedeutung von Achtsamkeitspraktiken

Achtsamkeit und Coaching – wie passt das zusammen?

Abschlussarbeit von Lisa Pertagnol, als PDF lesen


 Mit Achtsamkeit zur Selbstregulation

Achtsamkeit ist die Fähigkeit, im Moment den Moment wahrzunehmen, und zwar ohne Bewertung.

Es gibt bestimmte Techniken, die sich innerhalb des Coachinggesprächs anwenden lassen, um die Bewusstheit und auch den Fokus des Klientensystems zu verbessern.

Aber auch für den Coach ist eine achtsame Haltung während des Coachings von entscheidender Bedeutung.

Was heißt das?

Folgen wir dem Prinzip des Konstruktivismus‘, so verfügen Coach und Coachee jeweils über ihre ganz eigene Realität und ein ganz eigenes Erleben derselben.

Das bedeutet aber auch, dass wir als Coach (bzw. generell), wenn wir im Austausch mit anderen Menschen sind, das Gesagte immer wieder mit unserem eigenen Erlebnishorizont sowie unseren Erfahrungen und Kenntnissen, also kurz mit unserer „eigenen“ Realität, so wie wir sie kennen, abgleichen.

Das passiert in den meisten Alltagssituationen völlig unbewusst. Für den Coachingprozess jedoch scheint es mir unerlässlich, sich dieser Tatsache bewusst zu sein.

Dazu ist es nötig, über bestimmte Möglichkeiten der Selbstregulation und auch der Selbstreflexion zu verfügen. Denn diese eigenen inneren Referenzbilder dürfen von uns als Coach wahrgenommen werden, um dem Coachee jederzeit eine möglichst offene und wertungsfreie Gesprächssituation zu bieten und zu wahren.

Im Folgenden möchte ich die achtsamkeitsbasierten Methoden und Praktiken vorstellen, die ich in diesem Zusammenhang als besonders effektiv einschätze, weil sie den Coach in seiner Eigenwahrnehmung und damit seine Bewusstheit über eigene innere Prozesse schulen.

Begriffsklärungen und Bedeutung für die Coachingpraxis

Bevor wir uns den Achtsamkeitspraktiken zuwenden, möchte ich die beiden oben genannten Begriffe näher erläutern.

Was ist Selbstregulation?

Sich selbst regulieren zu können meint, die eigenen Gefühle, Impulse und Handlungen adäquat der jeweiligen Situation und ihren Bedürfnissen anzupassen.

In Hirn- und Neurowissenschaft spricht man von den exekutiven Funktionen, landläufig auch Impulskontrolle genannt.

Zu dieser gehört erstens das Unterdrücken einer Impulsreaktion.

Dadurch wird zweitens der Einsatz bestimmter, dienlicher Handlungs- oder Reaktionsmuster möglich.

Zur Impulskontrolle gehört drittens die Steuerung der Aufmerksamkeit. Also die Bereitschaft, von der belastenden Situation oder Emotion abzulassen, um den Fokus neu zu setzen.

Diese „Pufferzone“ zwischen Reiz/Impuls und Reaktion kann durch eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis noch verbessert werden.

Die Bedeutung von Selbstregulation in der Coachingpraxis

In einer Coachingssession sind wir als Coaches verschiedenen emotionalen Zuständen von Seiten des Coachees, aber auch von uns selbst ausgesetzt.

Umso wichtiger ist es da, offen und wertfrei zu bleiben und in der oben beschriebenen Pufferzone den Überblick und damit den Raum für das Gegenüber zu halten. Es ist daher entscheidend für den Coach, sich mittels Reflexionstools oder eben der Achtsamkeit immer wieder selbst zu reflektieren.

Eine gute Selbstregulation ist auch unerlässlich im Sinne der Selbstfürsorge, denn auch wir als Coaches dürfen uns und unseren Emotionen offen und wertfrei begegnen.

Nur eine solche Haltung uns selbst gegenüber befähigt uns, die gleiche Offenheit dem Coachee gegenüber walten zu lassen.

Darüber hinaus unterstützt sie uns dabei, uns nicht von unseren eigenen Gedanken und Emotionen aus der Coachingsession „forttragen“ zu lassen.

So können wir lernen, mit der Aufmerksamkeit achtsam im Moment zu bleiben.

Was ist Achtsamkeit?

Achtsamkeit als Begriff meint sowohl Haltung als auch die entsprechende (Übungs-) Praxis. Ursprünglich aus dem Buddhismus kommend, findet der Begriff mittlerweile auch in der westlichen Welt vielfach Verwendung.

Es gibt zahlreiche Kurse, Bücher und Seminare, die sich mit dem Thema Achtsamkeit in unterschiedlicher Form auseinandersetzen.

Sie bieten konkrete Hilfestellung, vor allem im Bereich Stressreduktion und Mitgefühl. Für den Meditationslehrer Jon Kabat- Zinn, der auch der Begründer der anerkannten MBSR-Methode 1 ist, ist Achtsamkeit „[…] die Bewusstheit, die sich durch gerichtete, nicht wertende Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick einstellt.“ 2

Die Bedeutung von Achtsamkeit in der Coachingpraxis

Das bedeutet im Coachingkontext:

In der Situation wirklich da zu sein und zwar mit allem, was sich zeigt.

Damit ist nicht nur die Konzentration auf den Coachee gemeint, sondern auch die aufmerksame und wertfreie Reflexion eigener innerer Vorgänge als Coach. Die Haltung entspricht der eines offenen, wohlwollenden Beobachters. In diesem Sinne ist es so wertvoll, Achtsamkeit, also eine achtsame Haltung, zu etablieren.

Das wertfreie Wahrnehmen von eigenen Emotionen und Gedanken aus der Perspektive des Coaches sichert auch die Wertungsfreiheit gegenüber dem Coachee.

Die Bewusstheit über die eigene Person, eigene Trigger, Bedürfnisse und der mitfühlende, beobachtende Umgang mit ihnen ist essenziell, um eben diesen geschützten Rahmen auch im Coachinggespräch zu bieten.

Wertschätzung und Vertrauen sind das A und O im Coachingprozess

Das darf jeder Coach mit und an der eigenen Person üben.

Vor allem auch, da wir als Coaches im Rahmen eines Coachingprozesses auch mit großen und mitunter schwierigen Emotionen von Seiten des Coachees konfrontiert sind.

Haben wir als Coaches eine gelassene, mitfühlende und in diesem Sinne achtsame Haltung gegenüber unseren eigenen Emotionen und inneren Prozessen etabliert, so fällt es uns leichter, dies auch dem Coachee mitzugeben und auf den Coachingprozess zu übertragen.

Wir strahlen damit als Coaches Sicherheit und Akzeptanz für den Coachee und seine inneren Prozesse aus. Wir können ihn besser dabei unterstützen, schwierige Gefühle zu akzeptieren ohne eine (quälende) Geschichte daraus zu machen und unter der Bewertung derselben zu leiden.

Wie sich das im Einzelnen durch bestimmte Techniken und Übungen gestalten kann, darum soll es im nächsten Abschnitt gehen.

Achtsamkeit angewandt: Hilfreiche Praktiken

Wenn mit Achtsamkeit die Übungspraxis gemeint ist, unterscheidet man generell zwischen der informellen und der formellen Achtsamkeitspraxis.

Beides ergänzt sich wunderbar und ist gleichermaßen wichtig.

Informelle und formelle Achtsamkeitspraxis

Informell meint alle die Übungsfelder, wo wir Achtsamkeit in unsere alltäglichen Tätigkeiten integrieren.

Was bedeutet das?

Im Alltag neigen wir dazu, viele Tätigkeiten automatisiert durchzuführen. Heißt, wir achten nicht darauf, wie wir etwas machen, was wir dabei empfinden, welche Qualität der Moment als solcher hat.

Aber genau das ist mit Achtsamkeit gemeint.

Da unser Alltag aus vielen automatisierten Handlungen (und damit vielen unbewussten Momenten) besteht, macht das achtsame Ausführen solcher Handlungen einen großen Unterschied in unserem Alltagsbewusstsein aus.

In der Konsequenz wird sich das auch in unserem Bewusstsein als Coach und während des Coachingprozesses positiv bemerkbar machen.

Formelle Übungen sind im Unterschied zu den informellen häufig angeleitet. Sie sind strukturiert und finden ganz regelmäßig nur zum Zweck des Übens als solchem statt.

Zu den wohl bekanntesten formellen Achtsamkeitsübungen gehört die Meditation in verschiedenen Varianten (Sitz-, Liege-, Gehmeditation etc.).

Im Folgenden werden einige Beispiele für informelle und formelle Übungen erläutert werden.

Informelle Übung I: Achtsames Zähneputzen

Die achtsame Durchführung bestimmter Alltagshandlungen ist oft nicht die Herausforderung, sondern die Erinnerung daran. Deshalb eignen sich ritualisierte Handlungen besonders gut, um sie als informelle Übungen zu verwenden.

Beim achtsamen Zähneputzen richtet man die Aufmerksamkeit auf die Tätigkeit als solche und auf alles, was an inneren Vorgängen damit einher geht. Wertfrei und beobachtend.

Fragen, die man sich hierfür – während des Zähneputzens – stellen kann:

– Welches Gefühl beschert mir die Zahnbürste in der Hand?

– Was kann ich an Geschmack und Geruch wahrnehmen?

– Was kann ich im Körper spüren?

– Welche unterschiedlichen Körperempfindungen kann ich benennen (nicht werten)?

– Wie kann ich meine Gemütslage beschreiben?

Diese Übung hat neben ihrer Einfachheit noch den Vorteil, dass man mit ihr jeden Tag achtsam ein- und dann ausläuten kann.


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1 MBSR ist die Abkürzung für „mindfulness based stress reduction“, ein 8-wöchiges Achtsamkeitsprogramm, das von speziell zertifizierten Lehrern (m/w/d) angeboten wird und dessen Wirksamkeit wissenschaftlich nachgewiesen ist. Einen guten Überblick über die Forschungslage zu den Effekten des Programms bietet unter anderem der MBSR-MBCT-Verband: https://www.mbsr-verband.de/achtsamkeit/forschung [Okt. 2021]
2 Kabat-Zinn, Jon (2019). Gesund durch Meditation. Das große Buch der Selbstheilung mit MBSR. München: Knaur Verlag, S. 23.