Abgrenzung Coaching – Therapie

Gemeinsamkeiten und Unterschieden

Abschlussarbeit von Kristina Dierschke und Dorothe Eisenstecken, als PDF lesen


Einführung

In meiner Ausbildung zur Systemischen Beraterin und Familientherapeutin hieß es:

Der Psychotherapeut arbeitet mit psychisch Kranken, der Berater mit gesunden Menschen!

Das klingt scheinbar klar, ist es aber nicht, wie ich finde. Mir persönlich ist diese Abgrenzung nicht eindeutig genug.

Ab wann genau ist jemand krank oder nicht mehr gesund?

Und woran erkenne ich das?

Es gibt kaum wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema. Das, was in der Literatur oder im Internet zu finden ist, bleibt vage. Einige Autoren schreiben, dass sich trotz aller Schwierigkeiten eine klare Trennung vornehmen lässt, ich persönlich erlebe das aber bei der Umsetzung in die Praxis in meinem beruflichen Alltag oft als schwierig.

Ich arbeite mit geistig behinderten Menschen, die alle auch an einer psychischen Erkrankung leiden.

Meine Klienten erleben immer wieder Phasen, in denen ihnen nichts mehr möglich ist bis hin zu Suizidgedanken, aber auch Phasen, in denen sie sich entwickeln, sich Ziele stecken und diese Ziele auch erreichen.

Ich bin immer wieder erstaunt, wie reflektiert meine Klienten auf ihr Leben schauen können und wie unreflektiert dagegen viele andere Menschen ohne psychiatrische Diagnose agieren.

Darf ich diese Menschen nun aufgrund ihrer Diagnose nicht bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützen?

Diese Frage stelle ich mir immer wieder aufs Neue.

Wo genau verläuft die Grenze?

 

Ich glaube, dass es in der Gesellschaft eine große Angst und Unsicherheit im Umgang mit psychisch kranken Menschen gibt.

Solange eine psychische Erkrankung in der Gesellschaft als Makel gesehen wird, wird die Einsichtsfähigkeit gering und die Hemmschwelle hoch sein, sich die Notwendigkeit einer psychiatrischen und/oder psychotherapeutische Behandlung offen einzugestehen, was immer wieder dazu führen wird, dass wir im Coaching mit Klienten konfrontiert sein werden, die eigentlich eine andere Form der Unterstützung benötigen (Medikamente, Psychotherapie oder möglicherweise auch einen Klinikaufenthalt).

Somit fungiert Coaching auch immer wieder als gesellschaftlich akzeptierte Form der Therapie.

Meine persönliche Meinung:

In einer Zeit, in der alles ressourcenorientiert gesehen werden soll, Defizite und Gefühle wie Trauer und Wut negiert werden, nicht benannt und klar auf den Punkt gebracht werden dürfen, wird eine Abgrenzung immer schwierig sein.

Die Übergänge sind fließend und nicht starr. Es gibt kein Messverfahren, durch welches sich eine psychische Erkrankung eindeutig feststellen lässt.

Die Diagnose psychischer Erkrankungen ist eine Kunst, die alleine auf Verhaltensbeobachtung basiert!

Kristinas und meiner Meinung nach ist es unsere Aufgabe als Coach hier die eigenen Grenzen für sich klar zu definieren.

Aber: Wie lässt sich diese Grenze finden?

Kristina und ich haben durch Literatur- und Internetrecherche, aber insbesondere durch zahlreiche gemeinsame Gespräche und Diskussionen sowie durch Reflexion unserer eigenen Praxisbeispiele eine Annäherung an dieses Thema gewagt.

Wir wollen euch heute einladen, mit uns gemeinsam den Versuch zu unternehmen, unsere Wahrnehmung für diesen Grenzbereich zu schärfen.

Rechtliche Regelung und Auslegung anhand eines konkreten Beispiels

Das HeilPrG wurde am 12.02.1939 erlassen.

Seit 1993 gibt es den auf Psychotherapie beschränkten „kleinen“ Heilpraktiker.

Das Gesetz besagt, dass man ohne ärztliche oder psychische Fachkenntnisse, eine medizinische Heilbehandlung nicht erkennen kann und somit die Behandlung des Kunden verzögert bzw. unterlässt und dadurch schwerwiegende gesundheitliche Nachteile eintreten. Schon die Feststellung, ob eine Fachbehandlung nötig ist, darf nicht gestellt werden.

Durch ein normales Gespräch während eines Coachings kann man physische und somatische Krankheiten nicht erkennen, allerdings einen guten Hinweis auf eine mögliche psychische Krankheit wahrnehmen.

Insofern wird keine Diagnose gestellt, sondern eine Vermutung geäußert.

Abgrenzungsmöglichkeit ist stets die eigene freie Reflexion über die eigenen Ressourcen und die eigene Selbststeuerung. Denn, wer die weitere Arbeit stoppt, richtet keinen Schaden an.

Vielmehr geht man verantwortungsbewusst mit Leib, Leben und Gesundheit eines fremden Menschen um. Denn tatsächlich sind nur solche Behandlungen erlaubnispflichtig, die gesundheitliche Schäden verursachen können (Art. 12 Abs. 1 GG).

Hier wurde die sogenannte Eindruckstheorie zur Abgrenzung entwickelt. Danach ist für die Ausübung der Heilkunde das subjektive Empfinden des Kunden maßgeblich.

Denkt ein Mensch, er sei psychisch krank und müsse mittels einer bestimmten Heiltätigkeit geheilt werden, dann liegt subjektiv der Eindruck vor, dass diese Behandlung auch erforderlich ist. Diese Behandlung bedarf also keines Coachings.

Denkt er allerdings, dass er nicht psychisch leidet, sondern schlicht Beruhigung benötigt, dann geht man nicht von einem psychischen Leiden aus und es liegt keine Heilbehandlung oder Psychotherapie vor – Coaching kann eingesetzt werden.

Beispiel: Synergetik-Fall

(Coaching-Magazin, Ausgabe 2/2016, erschienen am 11. Mai 2016, Auszug aus dem Artikel von Nina Meier)

Nach der Synergetik-Methode werden innere Bilder des zu behandelnden Klienten während einer Tiefenentspannung bearbeitet.

Hierdurch sollen unverarbeitete Erlebnisse und Konflikte aufgearbeitet werden und auf neuronaler Ebene eine Hintergrundauflösung von Krankheiten erfolgen.

Zu entscheiden war der Fall, dass eine Dame die Synergetik-Methode zur Behandlung von Traumata, Depressionen usw. anbot, ohne Ärztin, Psychotherapeutin oder Heilpraktikerin zu sein. Bei den Therapiesitzungen gelangten die Klienten in einen Zustand hypnoid verminderten Bewusstseins und erlebten Gedächtnisbilder, die sie samt verbundenen Gefühlen beschrieben haben.

Teilweise wurden die Klienten mit belastenden Erinnerungen konfrontiert. Dies ähnelt der konfrontativen Psychotherapie, denn neben den suggestiven Elementen (vgl. Hypnose und autogenes Training) weist diese Methode auch psychoanalytische Elemente auf, da abgespaltene Persönlichkeitsmerkmale bewusstgemacht werden und wieder in die Persönlichkeit integriert werden.

Das Wiedererleben traumatischer Erfahrungen ist gerade Ausdruck des psychoanalytischen und psychotherapeutischen Prinzips.

Elf Klienten suchten die Dame mit Krankheiten und Leiden auf, deren Besserung sie sich erhofften. Neun der elf Personen hatten psychische, zwei hatten körperliche Leiden. Andere Klienten waren gesund und nur neugierig.

Allerdings wurden weder den kranken noch den gesunden Klienten durch die Anwendung der Synergetik-Methode gesundheitliche Schäden zugeführt.

Auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens wurde nachvollziehbar dargelegt, dass sich die Synergetik Methode/-Therapie als konfrontative Psychotherapiemethode nicht für bestimmte psychisch kranke Menschen eignet. Denn bei Personen mit bereits verändertem Bewusstseinszustand und verminderter Realitätskontrolle kann das „katathyme“ Bildereleben in Verbindung mit einer Therapie gerade regressive Prozesse auslösen, die zu einer Dekompensation (Anmerkung: annähernd komplette bis komplette Funktionsstörung des psychischen Systems) führen.

Ob ein Mensch zu dem Kreis von Personen zählt, bei denen die Gefahr der Verursachung psychischer Dekompensation besteht, lässt sich ohne entsprechende medizinische oder psychotherapeutische Kenntnisse nicht zuverlässig beurteilen. Ein Laie kann dies nicht erkennen, geschweige denn latente Psychosen usw. feststellen.

Die Dame wurde in den benannten elf Fällen zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Urteil wurde vom BGH am 22. Juni 2011 (2 StR 580/10) in der Rechtsmittelinstanz bestätigt.


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