Grundhaltung des Nicht-Wissens

Überlegungen und Anstöße für ein systemisch-konstruktivistisches
und achtsames Denken des Coaches

Abschlussarbeit von Diane Baß, als PDF lesen


Einleitung

Ich habe es während meiner Ausbildung zum systemischen Coach* als große Herausforderung empfunden, aus meiner bisherigen beruflichen Experten-Haltung einer beratenden und leitenden Führungskraft heraus zu treten und die Haltung des Nicht-Wissens als Coach einzunehmen. Bei aller Komplexität der Systeme und Themen des Klienten sind da immer noch wir beide – mein Klient und ich, in unseren Rollen, aber eben auch als Personen mit Lebenserfahrungen und unserer eigenen Realität, in einem besonderen neuen System, unserem Beratungssystem.

Ich habe mir die Frage gestellt, wie es mir gelingen kann, in diesem Kontext professionell mit den Themen des Klienten umzugehen und die Grundprinzipien des Coachings, -explizit die Haltung des Nicht-Wissens-, in meiner Rollenethik zu verankern.

Diese Grundprinzipien sind:

● Respekt und Wertschätzung
● Verschwiegenheit
● Verantwortung
● Neutralität und Allparteilichkeit
● Wechselseitigkeit
● Die Grundhaltung des Nichtwissens

Da der letzte Punkt wesentlich von meiner bisherigen Rolle und Haltung im Berufsleben abweicht, möchte ich hier meine Überlegungen und Erfahrungen teilen. Ich habe viele Aussagen zusammengetragen, um in meiner persönlichen Weiterentwicklung und in der Rolle als Coach diese Grundhaltung nicht nur zu verstehen, sondern leben zu können. Da ist meine persönlich Moral und der Wunsch zu helfen, und da ist jemand, der Hilfe braucht und will.
Wie gestalte ich unser Beratungssystem Coach-Klient diesem Grundprinzip treu so, dass meine Expertenhaltung sich ausschließlich auf den Prozess beschränkt und ich mich aus den Inhalten der Themen meines Klienten heraushalten kann?
Die Annahme, dass der Klient in sich schon (meist unbewusst) über die Ressourcen verfügt, die zur Lösung seines individuellen Problems erforderlich sind, bildet für mich den Grundstein des eigenen Umdenkens. Es ist der Respekt, ja die Demut dieser Sichtweise als Außenstehender gegenüber der Welt und Wirklichkeit des Klienten, der den achtsamen und wertschätzenden Umgang mit dem Klienten und seinem Problem nach sich zieht. „Mit solchen Annahmen kann er** nicht mehr der „clevere Wissende“ sein, der mit strategisch distanziertem Blick auf der Meta-Ebene die Muster der KlientInnen überblickt und „weiß“, welche Musterveränderungen für sie erfolgsträchtig wären und wie sie ihre Ziele effektiv erreichen können.“ 1

Die Haltung des achtungsvollen Umgangs mit dem Klienten

Dr. Gunther Schmidt schreibt: „Es zeigt sich […], dass ein Coach eine ständige Gradwanderung zu vollziehen hat, immer wieder dabei eine Balance anzustreben hat, die äußerst labil bleibt, eine Balance zwischen dezenter Zurückhaltung einer- seits und gleichzeitig klaren Angeboten zur strukturierten Fokussierung auf zieldienliche Erfahrungen der KundInnen, welche diese selbst zumindest zum Zeitpunkt des Coachings eben nicht von sich aus vollzogen haben.“ Weiter führt Dr. Gunther Schmidt dort mit Bezug auf Milton Erikson aus: „Zusammenge- fasst ging er*** davon aus, […] dass alles Erleben, alle Wahrnehmung jeweils das Ergebnis von Aufmerksamkeitsfokussierung auf bewusster und unbewusster, auf willkürlicher und unwillkürlicher Ebene ist. […] Immer sollte davon ausgegangen werden, dass letztendlich die einzigartigen KundInnen ihre einzigartigen Antworten entwickeln.“2
Daraus lässt sich folgern, dass ein Coach, der meint, das Problem seines Klienten verstanden zu haben und deshalb eine Lösung, einen Ratschlag präsentiert, dem Klienten seine Lösungskompetenz abspricht. Somit bedarf es beim Coach der Selbstreflexion und ständiger Übung, zwischen seiner „Expertenmeinung“ und hilfreichen Interventionen zu unterscheiden. Jeder Mensch bildet eigene Hypothesen zu einem Thema, um Orientierung zu finden und handlungsfähig zu sein, das ist menschlich und normal. Es ist eine große Herausforderung für den Coach, herauszufinden, ob diese themenbezogenen Gedanken und Intuitionen, die Hypothesen, die in ihm auftauchen, der eigenen, persönlichen Lebenserfahrung und/oder der Identifikation mit dem Problem und den Lösungen des Klienten  entspringen.
Hier ist höchste Zurückhaltung geboten!
Sonja Radatz schreibt dazu: „Wir arbeiten mit der Wirklichkeit des Kunden und tun alles dazu, unsere eigene Wirklichkeit hauptsächlich auf Art und Inhalt der Fragen und die Gestaltung des Prozesses zu beschränken (die Welt des Kunden ist meist ohnehin schon komplex genug, so dass nicht noch unsere Hypothesen mitverkauft werden müssen).“3

Was nun also tun als Coach, mit den eigenen Eingebungen, Gedanken und Intuitionen?

Dr. Gunther Schmidt rät: „Aus meiner Sicht sollte man die eigenen Hypothesen eher ebenfalls als Ressourcen ansehen und im Dienste der KundInnen nutzen. […] Dafür müssen sie völlig transparent als eine Art „multiple-choice-Fragen“ angeboten werden, im Sinne von „könnte es vielleicht so, oder so, oder so oder noch ganz anders eher für sie passen? …“, immer mit klaren Hinweisen darauf, dass es sich um Hypothesen und Annährungsversuche des Coaches handelt, die überhaupt nicht den Anspruch auf Richtigkeit haben, sondern nur als unterschiedsbildende Kontrastierungshilfen dienen sollen und jederzeit von den KundInnen verworfen werden können. […] Auf diese  Weise können die Coaches ihre ganze Kreativität und ihre spontan-intuitiv ablaufenden Wahrnehmungsprozesse optimal als Ressourcen im Dienste der KundInnen nutzen, sie müssen sich nicht in verkrampfter Weise selbst reglementieren und die eigenen Hypothesenbildungsprozesse abwerten und können so den KundInnen sogar besonders nutzen. […] Die so angebotenen Hypothesen können beste Hilfen werden, wenn sie verbunden werden mit großer Achtung vor den Rückmeldungen, welche sie im Erlebnisprozess der KundInnen auslösen.“4

So kann nun jede mögliche Hypothese, die sich bildet, für den Coach eine Quelle für gute Fragen sein, die den Klienten und seine Fantasie zu einer neuen, anderen Betrachtungsweise einlädt und seine Expertenmeinung zu seinem Thema abholt. Denn der Klient selbst kann entscheiden, was für ihn passt und was er verwirft.

Der Beziehungsraum im Beratungssystem Coach-Klient

Aus systemisch-konstruktivistischer Sicht ist der Coach als Beobachtender im Beratungssystem gleichzeitig Teil der Beobachtung. „Wir müssen uns gewahr werden, dass mit jeder Sichtweise, die ir einbringen, unsere höchst subjektiven Einstellungen zutage kommen: Schon wenn wir das vom Kunden soeben Gehörte wiederholen, äußert sich darin unsere subjektive Vorstellung, die wir von der Welt haben. Wir können uns von dieser subjektiven Betrachtungsweise nicht lösen. So werden wir eins mit dem Kunden, indem wir uns bewusst in die subjektive Rolle des Beobachters begeben und ein gemeinsames Beratungssystem mit dem Kunden knüpfen: ein System, aus dem wir das Problem des Kunden aus unterschiedlichen, individuellen Blickwinkeln heraus betrachten.“5

Durch einen achtsamen und von höchster Wertschätzung geprägten Umgang mit dem Klienten und seinem Problem kommt es dann zu einer erfolgreichen Kooperation zwischen Klient und Coach, „wenn man die eigenen Sichtweisen und Wünsche der KundInnen kongruent achtet und sich auf sie einstimmt (Pacing). Und selbst brillant anmutende Interventionen eines Coaches für das System der KundInnen bewirken rein gar nichts Konstruktives, wenn sie nicht im Kontext einer Begegnung zwischen Kunde und Coach stattfinden, zu dem die KundInnen stimmig „Ja“ sagen können, der ihnen also sinnvoll und akzeptabel erscheint.“ […] Die Unterscheidung zwischen „Heimatsystem“ der KundInnen und „Beratungssystem“ hat das Ziel, „Interventionen für beide Systeme zu beachten, denn nur, wenn Maßnahmen für die Optimierung der Interaktionen im Beratungssystem gelingen, wirken die Interaktionen im Coaching-Prozess auch konstruktiv im „Heimatsystem“ der KundInnen (denn nur dann setzen diese sie selbsttätig um).“6

Es ist die ganzheitliche innere Zuwendung des Coaches, hin zu der Überzeugung, dass die Lösungskompetenz beim Klienten liegt, dass der Klient ein Recht auf seine Autonomie hat und auf den Anspruch der Gleichrangigkeit in unserem gemeinsamen System. Es ist die bewusste Akzeptanz für die ExpertInnen-Position des Klienten, die es ermöglicht, mit dem ganzen Tun des Coaches das auszustrahlen, was dann der Klient fühlt, spürt und für sich zu diesem „Ja“ formt. Die Gestaltung des Beziehungsraumes zwischen Coach und Klient basiert daher u.a. darauf, wie sich beide in ihrem Körper fühlen und wie authentisch sich „Nicht-Wissen“ seitens des Coaches und „Veränderungsbereitschaft“ seitens des Klienten im Gespräch darstellen und aufrecht erhalten lassen.
„Systemisches Coaching lebt von der Person des Coaches. Es ist keine Technik, sondern vielmehr eine Haltung, in der dem Kunden die Lösungskompetenz überlassen wird und in der der Coach seiner Intuition und seiner Erfahrung folgt, welche Frage und welches Konzept genau in jenem Augenblick am geeignetsten erscheint.“7

Aus systemisch-konstruktivistischer Sicht handelt jeder Mensch zum Zeitpunkt seines Tuns sinnvoll. Daher ist es nicht möglich, Menschen in eine bestimmte Richtung zu verändern. Die Entscheidung, sich in einem bestimmten Kontext in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten – oder eben nicht zu verhalten, trifft jeder einzelne selbst. Systemisches Coaching ermöglicht es dem Klienten, sein eigenes Wahrnehmungsfeld zu erweitern oder zu verändern, indem er, inspiriert durch systemische Werkzeuge, Dinge anders beschreibt, erklärt oder bewertet. Der Coach als Unterstützer trägt also im Beratungssystem die Verantwortung für den Prozess und die Ablaufgestaltung, für passende Fragen und hilfreiches Zusammenfassen, während der Klient für den Inhalt,
die Veränderung seiner Denk- und Handlungsmuster, für eigenständige und seine ganz einzigartigen Lösungen verantwortlich ist.

Martin Wehrle führt aus: „Es gibt drei Perspektiven, die Sie beim Coachen einnehmen können:

▪ eine Ich-assoziierte Position – Sie denken also über sich selbst nach;
▪ eine Du-assoziierte Position – Sie sind beim Klienten;
▪ und eine Meta-Perspektive, die eine Art Blick von der Tribüne ist: Aus einer gewissen Distanz schauen Sie auf sich und auf das Gespräch, lesen Ihre Gedanken und ziehen Schlüsse daraus.


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Quellen bis hierher

1 Radatz, Sonja [2018]: Beratung ohne Ratschlag: Systemisches Coaching für Führungskräfte und BeraterInnen : ein Praxishandbuch mit den Grundlagen systemisch-konstruktivistischen Denkens, Fragetechniken und Coachingkonzepten, 10. unveränderte Auflage, Wolkersdorf: literatur-vsm, 2018 S. 15
2 ebd., S. 16-18.
3 Radatz, Sonja [2018]: Beratung ohne Ratschlag: Systemisches Coaching für Führungskräfte und BeraterInnen : ein Praxishandbuch mit den Grundlagen systemisch-konstruktivistischen Denkens, Fragetechniken und Coachingkonzepten, 10. unveränderte Auflage, Wolkersdorf: literatur-vsm, 2018, S. 178.
***Milton Erikson, Anmerkung des Verfassers
4 Schmidt,Gunter in Radatz, Sonja, 2018, S. 21-22
5 Radatz, Sonja, 2018, S. 38.
6 Schmidt, Gunter in Radatz, Sonja, 2018, S.20.
7 Radatz, Sonja, 2018, S. 26.