Werte- und Entwicklungsquadrat – Feinheiten in der Sprache

Abschlussarbeit von Susanne Demir, als PDF lesen


Mir selbst hat die Begegnung mit diesem Denk- und Werteschema schlagartig geholfen, frühere Holzwege, die wir als Kommunikationstrainer naseweis gegangen waren, klarer als solche zu durchschauen.

Friedemann Schulz von Thun

Einleitung

Balance erfordert Spannung
Jede*r Seiltänzer*in braucht ein gut gespanntes Seil, um die Balance zu halten. Je besser das Seil gespannt ist, desto leichter ist der Gang.

Erst diese positive Spannung ermöglicht den Akt des Seiltanzes, andernfalls würde es zu einer problematischen Unruhe und gegebenfalls am Ende zum Absturz führen.

Das Werte- und Entwicklungsquadrat ermöglicht uns eben diesen Seiltanz in unseren menschlichen Qualitäten zu optimieren und in Balance zu bringen. Ein Wert kann laut Schulz von Thun

[…]nur dann zu einer konstruktiven Wirkung führen, wenn er sich in ausgehaltener Spannung zu einem positiven Gegenwert befindet.1

Das WEQ* im Coaching

Es kann uns und unseren Klient*innen helfen, (scheinbar widersprüchliche) Werte in einen logischen Zusammenhang zu setzen und ungünstige Verhaltensweisen konstruktiv wirksam werden zu lassen.

Im Coaching hilft uns das Werte- und Entwicklungsquadrat bei der Zielvereinbarung mit unseren Klient*innen, da es die Tendenz der gewünschten Entwicklung veranschaulicht und somit einen Anhaltspunkt für die Intervention deutet.

Die Ursprünge des WEQ

Die Ursprungsidee geht auf Aristoteles zurück (350 v. Chr.).

Das Wertequadrat stammt von dem deutschen Philosophen Nicolai Hartmann (1926) und wurde von Paul Helwig (1967) für die Psychologie aufgegriffen.

Friedemann Schulz von Thun ergänzte das Wertequadrat um das Entwicklungsquadrat und verbreitete dieses Konzept,

[…] um es für Vorgänge der zwischenmenschlichen Kommunikation und Persönlichkeitsbildung nutzbar zu machen[…].2

DAS WEQErläuterung des Aufbaus

In Feld 1 wird der Wert eingetragen, der für die*den Klient*in als störend empfunden wird. Synonyme für „Wert“ können in diesem Fall Tugend, Eigenschaft, Leitprinzip oder Persönlichkeitsmerkmal sein.

Feld 2 beschreibt den postiven Kern dieser Eigenschaft, Feld 3 den positiven Schwesternwert (Gegenwert, Schwesterntugend).

Feld 4 stellt die Übertreibung des positiven Schwesternwerts in Feld 3 dar.

Die Reihenfolge ist immer dieselbe.

Der obere Pfeil stellt die positive Spannung dar, der untere die problematische Übertreibung. Die diagonalen Pfeile beschreiben die  Entwicklungspotenziale.

Alle vier Werte stehen in Beziehung zueinander.

Die beiden oberen Werte sind nicht starr voneinander getrennt, sondern als Regler zu verstehen.

Wie im Yin-Yang Verhältnis enthalten beide Werte schon Elemente des anderen.

Anwendung: Coaching Beispiel

Wieso nimmt niemand meinen Rat an?

Ein* Klient*in ist stets bemüht, Freunden und Familie Ratschläge zu erteilen.

Sie*er hat ihr*sein Leben voll im Griff und wünscht sich dieses Glück auch für alle anderem in ihrem*seinem Umfeld.

Allerdings kommen diese Ratschläge nie an und werden eher als aufdringlich empfunden, womit sich die*der Klient*in schlecht fühlt.

Als erstes gilt es, den postiven Kern der so benannten Aufdringlichkeit herauszustellen. Die*der Coach*in fragt die*den Klient*in, was die gute Absicht dahinter ist und es stellt sich heraus, das Hilfsbereitschaft eine große Rolle im Wertesystem der*des Klient*in spielt.

Beide Seiten arbeiten heraus, was diese Hilfsbereitschaft braucht, um in Balance zu bleiben und es stellt sich für die*den Klient*in heraus, dass Zurückhaltung mehr Leichtigkeit in die Situation bringen würde.

Sollte diese Zurückhaltung übertrieben werden, könnte diese als Desinteresse oder sogar Egoismus gedeutet werden, was die*der Klient*in auf keinen Fall möchte. Sie*er weiß jetzt, dass sie*er durch Hilfsbereitschaft zeigt, dass sie*er sich für ihre*seine Mitmenschen interessiert, sie*er sich jedoch auch mehr zurückhalten darf, um nicht aufdringlich zu erscheinen.

Wichtig:

Die Werte werden immer von der*dem Klient*in benannt, die*der Coach*in darf unterstützend bei der Wortfindung wirken.


Die Feinheit der Sprache

Wie finde ich die richtigen Worte (Werte)?

Da jede Sprache begrenzt ist, fehlen uns manchmal die Worte.

Gerade wenn es darum geht, Werte oder Merkmale zu beschreiben, wie wir sie ganz persönlich, aus unserem tiefsten Inneren heraus, empfinden.

An dieser Stelle können der*dem Klient*in Neologismen (Wortneuschöpfungen, z.B. „Friedhöflichkeit“ aus Frieden und Höflichkeit) helfen. Dies dürfen wir aktiv anbieten.

Im Vordergrund steht immer, dass das Modell für die*den Klient*in verständlich und greifbar ist.

Es gibt kein richtig oder falsch, besser oder schlechter – es zählt die Stimmigkeit des Verwenders (Subjektivität).

Doppeldeutigkeiten vermeiden

Ebenfalls zu beachten ist, dass ein und dasselbe Wort für unterschiedliche Menschen eine ganz andere Bedeutung haben kann.

Die*der Coach*in ist an dieser Stelle immer gefordert, die für die*den Klient*in wahrhaftige Bedeutung herauszufiltern.

Wir können Synonyme anbieten, gegebenenfalls auch nachschlagen. Sich diese Zeit zu nehmen ist am Ende entscheidend für ein erfolgreiches und nachhaltiges Ergebnis.

Unterstützend nachfragen

Fragen wie „Wie würden Sie es noch beschreiben?“ oder „Trifft es eher … oder …?“ können helfen.

Sich ein Nein als Coach*in abzuholen, darf uns nicht abschrecken, im Gegenteil.

Es kann der*dem Klient*in helfen, seine Meinung zu stärken.

Gelegentlich kann es sogar helfen, sich ein bewusstes Nein abzuholen, damit die*der Klient*in sagen kann:

Nein, das ist es nicht. Es ist vielmehr …“.

Beweglich bleiben

Nur weil im letzten Coaching der Wert „Hilfsbereitschaft“ den Schwesternwert „Zurückhaltung“ hatte, muss dies nicht beim nächsten WEQ identisch sein.

Die Schwesternwerte variieren je nach Klient*in, aber auch je nach Situation (siehe Coaching Beispiel 2).


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*Anmerkung: Das Werte- und Entwicklungsquadrat wird auf den folgenden Seiten zur Simplifizierung mit der Abkürzung WEQ gleichgesetzt.

1 Friedemann Schulz von Thun, „Miteinander Reden 2“ (März 1996), Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, S. 38
2 ebenda