Reflexion zu einem Phänomen

in der systemischen Aufstellungsarbeit

Abschlussarbeit von Anna Bella Eschengerd, als PDF lesen


In meiner Reflexion wende ich mich dem Thema zu, wie die Leitung mit schwerwiegenden Gefühlen und stark bewegenden Themen in der Aufstellungsarbeit umgehen kann, damit die Aufstellung klienten- und lösungszentriert verläuft.

Dabei ist klären, inwieweit Lösungsorientierung unter Berücksichtigung der Eigenwirksamkeit fokussiert werden kann.

Nach meiner Erfahrung sind an Aufstellungsarbeit größtenteils Menschen interessiert, die empathisch sind, also ein hohes Gewahrsein für die Zustände der sie umgebenden Menschen haben.

Mit der Empathie ist ein resonierendes Mitschwingen verbunden, das für die Aufstellungsarbeit wesentlich ist.

Bauer 2008 benennt Resonanz als ein menschliches Grundbedürfnis. Petzold folgt in seiner Definition von Resonanz einem Ansatz, der sowohl die individuelle Autonomie als auch die bezogene Verbundenheit zu anderen Menschen Raum gibt:

Dabei wird Resonanz als Mitschwingen in Eigenschwingungen, als Antwortschwingungen in den eigenen Schwingungsfähigkeiten gesehen
(Petzold 2011)

Die systemische Resonanz ist schließlich das, was Varga von Kibét (2000) als repräsentierende Wahrnehmung bezeichnet: der Zugang zu Systemwissen durch das Einnehmen einer Position im System.

Das Systemwissen drückt sich vornehmlich durch körperliche Reaktionen und Körperwahrnehmungen aus (Hellinger 2001; Sparrer 2001).

Eigenwirksamkeit und Sich überlagernde Systemenergien

Als Leiterin einer Aufstellung ist neben dem Mitschwingen auch ein Überblick notwendig, der die Dynamiken im Feld und den Zustand des Klienten/der Klientin einbezieht, sowie mögliche Entwicklungsereignisse antizipiert.

Im Spannungsfeld zwischen Eigendynamik im Feld und einer lösungsorientierten Fokussierung des Aufstellungsverlaufs kann es notwendig sein, Impulse zu geben.

Impulse, die einen tieferen, vielleicht durch Dissoziation verborgenen Zusammenhang freilegen und damit in der Psyche des Klienten/der Klientin bestehende Tabus anrühren und aufdecken.

Um an abgespaltene oder überlagerte Strukturen zu kommen, muss die Leitung Reaktanz als Systemdynamik erkennen.

Jack W. Brehm fasst unter dem Begriff eine komplexe psychische Abwehrreaktion, die als Widerstand gegen äußere oder innere Einschränkungen aufgefasst werden kann.

Reaktanz wird in der Regel durch psychischen Druck oder die Einschränkung von Freiheitsspielräumen ausgelöst.

Die Fokussierung der Aufstellung auf eine ursächliche Verstrickung kann einen solchen psychischen Druck erzeugen, da die Freiheitsspielräume der Konstruktion der inneren Narrative infrage gestellt werden.

Der Begriff der Ursächlichkeit ist NICHT kausal und normativ gemeint, sondern als phänomenologische Ebenenschau, siehe weiter unten im Text.

Nur wenn mögliche Abwehrsysteme erkannt und in ihrer Systemdynamik gewürdigt werden, kann eine angstvoll vermiedene Struktur fokussiert und in der Aufstellung sichtbar gemacht werden. Hier offenbart sich das Spannungsfeld von Lösungsorientierung und Eigenwirksamkeit des Systems.

Meine These hierzu lautet:

Die symptomatische Konstellation (Problembild) kann eine eigenständige selbsterhaltene Dynamik (in der repräsentierenden Wahrnehmung der SV) manifestieren, welche die Dynamisierung des Lösungssystems vorübergehend verzögert.

In dem Sinne überlagern sich Symptomsystem und Lösungssystem als zwei systemische Zusammenhänge in der systemischen Aufstellung.

Die energetische Stärkung des Lösungssystems in den Strukturen des Symptomsystems ist das Maß an Lösungsorientierung durch die Leitung, das unter Wahrung der Eigenwirksamkeit des Systems (i.e. Lösungssystem) unabdingbar ist.

Diese Überlegungen sollen nicht den Eindruck vermitteln, das Reaktanz als ausschließlich um jeden Preis unmittelbar zu überwindender Widerstand zu werten sei, sondern Widerstand muss unbedingt auch als Ressource vor Überforderung von Eindrücken als strukturierendes Element gewürdigt und beachtet werden (s.u. im Text Grenze der  Belastbarkeit).

Grundhaltung der Aufstellungsleitung

Diana Drexler schreibt in ihrer „Einführung in die Praxis der Systemaufstellungen“:

Will man Veränderungsprozesse anstoßen, reichen empathische Wahrnehmungsprozesse allerdings nicht aus.

und weiter:

Vielmehr gilt es, die zugrunde liegenden Wahrnehmungen nachvollziehbar mitzuteilen, dem gegenüber blinde Flecken ‚sichtbar‘ zu machen und ihm dadurch Möglichkeiten für neue Handlungsspielräume zu eröffnen“ (Drexler 2015, S. 26)

In der Aufstellungsarbeit soll durch das ergebnisoffene, unvoreingenommene Schauen von inneren Bildern im Außen die biografische und transgenerationale Narration verändert werden. Das Aufstellen bleibt nicht bei einem reinen Schauen stehen, wobei anzunehmen ist, dass jedes Schauen schon die Haltung zum Geschauten verändert.

Bei einer Aufstellungsarbeit können […](Abwehr-) Reaktionen im aktuellen Beziehungsverhalten in einen Zusammenhang mit ursprünglichen Bedürfnisverletzungen gestellt werden mit dem Ziel, im Prozess einer induzierten Regression eine Erfahrung symbolisch nachzuholen, die so nicht stattgefunden hat
(Drexler. 2015. Seite 38)

In der systemischen Aufstellungsarbeit wird also unter der Prämisse der Unvoreingenommenheit wohl aber mit der Absicht, eine als belastend empfundene Konstellation zu lösen, das unmittelbare Wahrnehmen als Erkenntnisweg wie Husserl ihn 1950 beschreibt zur Methode.

Husserl versteht unter seiner Parole „Zurück zu den Sachen selbst“ eine möglichst störungsfreie – unter Abschaltung von Umwelteinflüssen, Vorurteilen, subjektiven Erfahrungen, gelerntem Wissen – Annäherung an das Wahrgenommene.

In einem Verfahren, das er mit den Begriffen epoché (Enthaltung, innehalten) und eidetische Reduktion (In-Klammern-Setzen der mit einer Wahrnehmung verbundenen Meinungen) bezeichnet.

In Anlehnung an Heidegger kann für die Verfasstheit eines/r systemisch neutral und ergebnisoffenen Aufstellungsleiter*in formuliert werden:

sie konzentriere sich reduziert auf die voraussetzungslose Wahrnehmung selbst (Ich weiß nichts, ich will nichts),

hinterfrage Annahmen (Ist es wirklich so?) und

interveniere anhand der Wahrnehmungen konstruktiv (Was zeigt sich, wie wirkt es auf mich, womit hängt es zusammen?)

(Drexler 2015 S.26).

König (2004, S.207) beschreibt Haltung und Vorgehen in der Aufstellungsarbeit in Anlehnung an P. Fürstenau wie folgt:

phänomenologisch wahrnehmen, systemisch konstruktivistisch denken, flexibel auf eine offene Zukunft hin intervenieren.

Diese Art des pendelnden (vergl. Petzold, 2011. S.o.) in-Wahrnehmung-versenkt-Seins ist idealtypisch und in der Aufstellungspraxis nicht vollendet zu erreichen.

Aber als Orientierung ist es dienlich, indem die Leitung gewahr ist, nicht objektiv „richtiges“ Verstehen aus der Beschreibung von Phänomenen zu erreichen, sondern vorläufige Hypothesen in einem kontinuierlichen Vorgang zu entwickeln.

Wenn die Lösungsorientierung das Handeln von Leiterinnen und Leitern dominiert, laufen sie unter Umständen

schnell Gefahr, ‚zu wissen‘, gerade wenn sie nicht viel Selbsterfahrung haben und/oder unter Handlungsdruck stehen.

und weiter:

„Die Aufstellungsarbeit als stark leiterzentriertes Verfahren bietet hier – je nach Persönlichkeit der Leitung – in besonderem Maße Raum und Risiko für ungezügelten Intuitionismus und normatives (Besser-) Wissen“ (Drexler. 2015. S.28)

Das Spannungsfeld zwischen Eigenwirksamkeit des Systems und der Fokussierung eines katalysierenden Elements ohne normative Vorannahmen zu finden, erlebe ich als besondere Herausforderung in der Arbeit.

Hierbei spielen auch eigene Grenzen und die Intensitätstoleranz des Leiters / der Leiterin eine Rolle, die ich in den Blick nehmen möchte.

Die wertschätzende Grundhaltung, kombiniert mit Vertrauen auf die Selbstwirksamkeit des Systems, führt zu einer Haltung der Leitung, die konstruktiv begleitend statt bevormundend und im Sinne eines erwarteten Lösungsbildes der Leitung vorstrukturierend ist.

Auch sollte die Aufstellung nicht ausschließlich in emotionaler Intensität mäandernd, sondern wie oben beschrieben im Sinne einer Lösungsorientierung fokussiert geleitet werden.

Entscheidungen der Aufstellungsleitung

Im Sinne der Fokussierung der Aufstellungsdynamik trifft die Leitung im Verlauf der Aufstellung Entscheidungen, die aus dem Mitschwingen heraus durchaus Impulse geben, die den weiteren Verlauf maßgeblich strukturieren können.

Diese Entscheidungen benötigen mitunter eine gewisse Chuzpe, weil besonders für eine einfühlsame, wertschätzende Leitung ein sozialer Konflikt (Beziehungsebene, Systemebene)dabei entstehen kann, die Dynamik des Systems auf einen Schmerzpunkt zu fokussieren, der im Alltagskontakt eher vermieden oder verdeckt und nicht konfrontativ bloßgestellt werden würde.

Ich empfinde die Herausforderung der Leitungsrolle darin, dass in der professionellen Haltung, dieses implizite soziale Agreement im Sinne der Lösungsorientierung gebrochen werden muss.

Das Maß für die Fremdbestimmung der Akteur*innen im System für den Augenblick zu bestimmen, das notwendig ist, um den Prozess zu katalysieren, ohne autoritär zu werden, halte ich für eine große Herausforderung.

Um Orientierungspunkte für die Entscheidungen zu finden und im Augenblick auch den Mut für einen konsequenten Schritt aufzubringen, scheint mir ein Blick auf den Rahmen hilfreich.

Mit Rahmen meine ich die Aufgabe der Leitung, den Raum für die Aufstellung zu halten und das Gewahrsein innerer Strukturen der Klientin, des Klienten und des Leiters oder der Leiterin.


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