„Alte Liebe“ wieder entdeckt

Abschlussarbeit von Bernhard Figgen, als PDF lesen


Mein bisheriger Berufsweg: Ausbildung und langjährige Berufstätigkeit als Diplomingenieur

Gestartet bin ich beruflich mit einem Maschinenbaustudium mit Anfang 20, nachdem ich zuvor den Zivildienst in einer Jugendbildungsstätte abgeleistet hatte.

Die Berufswahl erfolgte eher aus pragmatischen Gründen.

Mein Studium an der RWTH Aachen verlief nicht klassisch und geradlinig “typisch“ – aber erfolgreich. Näheres dazu im Kapitel 2 „Alte Liebe“… .

Während meines Studiums war ich u.a. wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Arbeitswissenschaft der RWTH Aachen und habe als technische Vertiefung die Fachgebiete Fertigungstechnik, Qualitätssicherung und Umweltschutz studiert.

Stationen meines Berufslebens als Diplomingenieur in den verschiedenen Bereichen und Funktionen eines Großkonzerns der Automobilzulieferindustrie waren:

• Projektarbeit für Umweltschutz und Recycling

• Langjährige Tätigkeit im Vertrieb

• Marketing (Wettbewerberbeobachtung) und

• Trainings und Leiten von Strategieworkshops

an mehreren Standorten in Deutschland und weltweit tätig.

Die damit verbundenen Tätigkeiten erforderten als Basis guten technischen Sachverstand, im Vertriebsbereich und der Auftragsakquise, betriebswirtschaftliches Denken und Verhandlungsgeschick.

Merkmale meiner Tätigkeitsfelder waren immer auch durch das ständige Zugehen und die Kommunikation mit den beteiligten Menschen gekennzeichnet:

einerseits nach innen in meine Organisation- anderseits nach außen bei den Kunden.

In den letzten Jahren meiner Berufstätigkeit als Ingenieur hatte ich die Gelegenheit, interne Fortbildungen / Workshops im Bereich der „Strategisch-erfolgreichen Kundenakquise“ für Kolleginnen und Kollegen durchzuführen; etwas, was ich sehr gerne gemacht habe.

Rückblickend betrachtet fällt auf und war mir immer irgendwie bewusst, dass ich zwar einerseits technisch ausgebildet bin und über großen technischen Sachverstand verfüge, und ich mich über lange Zeit mit komplexen technischen Produkten beschäftigt habe.

Andererseits aber war mir immer der Mensch mit seiner „menschlichen Seite“ und die zwischenmenschliche Kommunikation in meinen Arbeitsbezügen von großer Bedeutung: Sei es in der Kundenkommunikation und den Auftrags- und Projektverhandlungen und auch intern im Rahmen der Strategieworkshops.

Immer stand für mich auch der Mensch als Kunde oder Mitarbeitender im Zentrum meines Handelns und Interesses.

Es ging nie nur um die reine Fachkompetenz, sondern auch personale und soziale Aspekte und die damit verbundenen Fragen und Themen.

Nach einem privat motivierten Wohnortwechsel und den damit ausgelösten Fragen nach

Wie soll es jetzt beruflich weitergehen?

Was geht angesichts des Alters noch?

habe ich sehr deutlich Anfang diesen Jahres meine „alte Liebe“ wiederentdeckt und mich für eine Ausbildung zum Systemischen Coach entschieden.

Zentrale Entscheidungskriterien waren hierbei der Wunsch, meinen beruflichen „Erfahrungsschatz“ weiter nutzen zu können, aber auch die „alte Liebe“ zu psychologischen Themen, dem Sozialen und der zwischenmenschlichen Beziehungen nachzugehen.

Nachfolgend führe ich näher aus, wo die Wurzeln für diese persönliche Ausrichtung liegen und, wie diese „Liebe“ sich auf meinem Lebensweg immer wieder mal gemeldet hatte.

Meine „alte Liebe!: Die Psychologie und das Soziale

Aufgrund meiner Erziehung und dem Aufwachsen in einer christlich geprägten Familie, habe ich die Werte Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit sehr verinnerlicht.

Zahlreich bin ich mit christlichen und sozialen Belangen in Berührung gekommen. Als Gruppenleiter und Leiter von Gruppen bei Ferienfreizeiten, bin ich früh mit pädagogischen Themen und Gruppenleiterfragen in Berührung gewesen.

Meine pazifistische Einstellung und Kriegsdienstverweigerung ließen mich den Zivildienst in einer Bildungseinrichtung ableisten. Dort kam ich, neben meiner Hausmeistertätigkeit, mit Menschen aus dem Sozial- und Erziehungsbereich in Kontakt. Deren Arbeit als Diplompädagoge und Diplompädagogin interessierte mich, imponierte mir und gefiel mir.

Die Beschäftigung mit der Förderung von jungen Menschen und deren Hinführung zum Hauptschulabschluss (z.B. deren Anleitung beim Bewerbungsverfahren) und die sozialpädagogische Begleitung bei deren außerschulischen Praktikum waren einige der Themenfelder, von denen ich etwas „mitbekam“.

Bereits als Schüler hatte ich der Oberstufe zB im Fach Pädagogik mit großem Interesse gelernt. Und auch schon einmal über eine pädagogische Berufstätigkeit nachgedacht.

Dennoch entschied ich mich nach dem Zivildienst für ein Maschinenbaustudium, nicht zuletzt auch geprägt durch meinen Vater und seine Ausbildung (Schlosser, Techniker, Ingenieur).

Während meines Studiums kamen mir Zweifel auf, ob ich die richtige Berufswahl getroffen hätte. So entschloss ich mich dazu, parallel ein Studium der Sozialpädagogik zu beginnen. Für dieses Studienfach machte ich ein halbjähriges Praktikum mit geistig-behinderten Menschen im Heilpädagogischen Heim in Düren.

Damit erwarb ich die Eingangsvoraussetzung zum Studienbeginn an der KFH Aachen. Ein Semester war ich dort eingeschrieben und belegte Seminare und Kurse. Obwohl ich gute Erfahrungen gemacht hatte, entschied ich mich damals für die Fortsetzung des Maschinenbaustudiums, weil mir die technische Materie als handfester und eindeutiger erschien. Im sozialen Bereich können Dinge mal so und mal so gesehen werden, dachte ich damals.

Allerdings sollten mich meine Erfahrungen im späteren Berufsleben ein anderes lehren. Auch bei der Technik mag es sein, das man objektiv messen kann, aber die damit beschäftigten Menschen interpretieren vielfach die Ergebnisse anders und auch sehr subjektiv. Besonders im Vertrieb, wo es immer um Geld und um die Abwägung von unterschiedlichen Zielen zwischen Kunde und Zulieferer geht, müssen oft bei Verhandlungen Kompromisse eingegangen werden. Es ist also gar nicht immer so klar, wie man am Anfang bei technischen Problemen annimmt.

Nicht nur das Soziale, sondern auch die Psychologie, die eigene Selbsterkenntnis und psychotherapeutische Themen haben mich schon immer interessiert

früh kam ich im Kontext der Kath. Jugendarbeit mit pädagogischen Themen in Berührung.

Und auch während des Studiums meldete sich diese Interessenseite immer wieder: Ich nahm an Exerzitien teil, die Themen Transaktionsanalyse aufgriffen und vermittelten, und, war Teilnehmer an einem Präsenz- Seminar „Formen der Psychotherapie“ an der Fernuni Hagen.

Ehrenamtlich engagierte ich mich für den Umweltschutz bei Greenpeace in der Ortsgruppe.

In dieser Interessen-Bandbreite betrachtet würde ich mich heute als den „nicht-klassischen“ Diplomingenieur bezeichnen. Ich habe stets nach „meiner Nische“ in der technischen Beratung gesucht und dort gefunden. Ich arbeitete in Bereichen, die immer viel mit Menschen zu tun hatten.

Mir wurde zunehmend bewusst, wie sehr sich Unternehmens- und Führungskultur auf die Mitarbeitenden auswirken. Die Arbeitszufriedenheit und auch die Arbeitsmotivation und die Arbeitsergebnisse haben maßgeblichen Einfluss auf den Erfolg eines Unternehmens. Die Bedeutung der Mitarbeitenden im Unternehmen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Personalentwicklung muss meines Erachtens daher noch viel stärker auch persönliche und soziale Weiterentwicklung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen berücksichtigen.
Ein Meilenstein meiner persönlichen Entwicklung war die Teilnahme an einem halbjährigen Leadership-Pilotprojekt zu Führungsthemen (12-köpfige Lerngruppe). Begleitet wurde der Prozess durch Einzelsupervisionen / Coachings.

Weiterhin hat mich die mehrjährige berufsbegleitende Ausbildung meiner Frau zur personenzentrierten Supervisiorin DGSV nach dem Theorieansatz von Carl Rogers immer wieder angesprochen und inspiriert. Im Eigenstudium habe ich – neben dem Erlernen der Systemischen Ansätze – auch diesen Hintergrund fachlich als hilfreich für die Beziehungsgestaltung („Helferhaltung“) gewürdigt und in mein Selbstverständnis als Coach integriert.

Mit dem Beginn der Ausbildung zum Systemischen Coach empfand ich mehr und mehr, dass dies nun mein weiterer beruflicher Weg sein würde. Eine belebende und erfüllende Erfahrung.

Warum das so ist und was mich an dem Systemischen Coaching fasziniert, werde ich im nächsten Kapitel näher skizzieren und erläutern.

Das Systemische Coaching – Theoretische Hintergründe und Bedeutung der Haltung im Coaching

Von den ersten Tagen der Ausbildung an war ich von den Grundlagen und dem Konzept des Systemischen Coachings begeistert. Die Grundlagen (Systemisch; ressourcen- und lösungsorientiertes Vorgehen) und die hinter dem Systemischen Coaching stehenden Ansätze (Konstruktivismus, positive Psychologe, Lösungsorientierung) zogen mich in ihren Bann.

Im Rahmen dieses Kapitels werde ich auf exemplarische theoretische Grundlagen / Kernaussagen der Systemtheorie als Basis für das systemische Coaching und die Bedeutung der Haltung des Coaches im Coaching eingehen.

Zur weiteren Vertiefung des Lesers, verweise ich auf die angegebene Literatur im Anhang.

Systemtheoretische Grundlagen und Konzepte

Konstruktivismus

Der Konstruktivismus ist „eine Position der Erkenntnistheorie aus dem 20.Jahrhundert“.1

Der Radikale Konstruktivismus wurde von Ernst von Glasersfeld entwickelt. Er hat dabei auf die Arbeiten von Jean Piaget zurückgegriffen. Die Denkweise von Piaget war konstruktivistisch und erkenntnistheoretisch. Ernst von Glasersfeld argumentiert insbesondere auch mit der operationellen Geschlossenheit von Systemen.2

Der Konstruktivismus geht in seiner radikalsten Form davon aus, „dass jeder Einzelne sich seine Wirklichkeit im eigenen Kopf „konstruiert!…3.

Jeder Mensch hat also seine eigene Realität und Vorstellung der Welt.

Wir lernten hierzu die Metapher des Inselmodells kennen, das davon ausgeht, dass jeder in und auf seiner „individuellen Insel lebt“, mit seiner eigenen Wahrnehmung. Diese Wirklichkeit des Coachees zu entdecken und verstehen zu lernen, ist eine Grundvoraussetzung und auch Kunst für ein erfolgreiches und wirksames Coaching.

System und Funktionsweise

Unter einem System versteht man das Zusammenwirken der verschiedenen Systemelemente.

Das Zusammenwirken, die Art der Rück- oder Wechselwirkung innerhalb von Systemen, führt zu der Unterteilung in Systeme 1. und 2. Ordnung. Ebenfalls gibt es lebende und tote Systeme, offen
und geschlossene Systeme.

Im Coaching habe wir es mit komplexen sozialen Systemen zu tun.

Einfache System (1. Ordnung) sind gekennzeichnet durch lineare Beziehungen, UrsacheWirkungs-Beziehungen. Demgegenüber sind komplexere Systeme (2. Ordnung) unterschieden dadurch, dass es besondere Wechselwirkungen zwischen den Systemelementen gibt als auch Rückwirkungen untereinander. Alles ist mit allem verbunden; innerhalb des System sind die Verbindungen netzwerkartig.

Die bildliche Verdeutlichung eines Systemverhaltens ist am Beispiel eines Mobiles machbar. Berührt man ein Teil des Mobiles und bringt es in eine neue Position, so hat dies Auswirkungen auf die anderen Teile des Mobiles. Und deren Bewegung wiederum wirkt rückwirkend auf die anderen Teile zurück usw.

Wenn wir auf menschliche Systeme und das Coaching schauen, so ist ein menschliches System durch die komplexe Wechselwirkungen der Menschen untereinander und die Art der Organisationsform beschreibbar.

Eines der grundlegendsten Systeme, therapeutisch gesehen, ist die Familie. Jeder von uns ist anfangs in eine Familie, die Herkunftsfamilie, hineingeboren. Des Weiteren leben wir in den verschiedensten Gruppen und Organisationsformen wie der Ehe, der Firma, dem Freundeskreis, Vereinen, …, also in vielfältigen Arten der Zugehörigkeit.

Betrachtet und wissenschaftlich untersucht werden Systeme in der interdisziplinären Systemtheorie.4

Des Weiteren können Systeme sich selbst organisieren. Beim Menschen und seiner Organisation von Innen heraus, spricht man von Autopoiese.5

Weiteres hierzu ist im Kapitel Hypno-systemisches Coaching, Methodenbeschreibung, Kapitel 4.3.1 nachzulesen.

Die wertschätzende Haltung des Coaches

In meiner Ausbildung lernte ich als Erstes die Bedeutung der Haltung im Coaching kennen.

Der Coach nimmt eine wertschätzende und neugierige Haltung gegenüber seinem Klienten ein. Er ist sich darüber im Klaren, dass das Erleben des Coachees einzigartig und „auf seiner Insel“ („Coachee-Insel“) und in seinem System für ihn schlüssig und wahrhaftig ist. Alles Handeln und Verhalten des Coachees macht Sinn.

Der Coach tritt der Coachin offen und unvoreingenommen entgegen. Er schätzt den Coachee sehr und geht von der „OK-Haltung“ aus, die auch in der Transaktionsanalyse beschrieben wird.

Und auch die personenzentrierte 6 Grundhaltung nach Rogers lässt sich mit diesem Ansatz verknüpfen und integrieren. Der Coach legt eine gewisse Demut an den Tag; er kennt nicht die Lösung des Coachee. Er ist dankbar, den Menschen begleiten zu dürfen und hilft diesem, seine eigenen Lösungsmöglichkeiten für seine Probleme und Schwierigkeiten selbst finden zu können. In diesem Sinn unterstützt er den Klienten in seiner eigenen Lösungsfindung im Sinne von „Hilfe zur Selbsthilfe“.


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Quellen bis hierher

1 vgl. Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Konstruktivismus_(Philosophie) Abruf 26.12.2021
2 https://de.wikipedia.org/wiki/Systemtheorie#Kybernetik. Abruf 04.01.2022
3 ebenda
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Systemtheorie Abruf 01.01.2022
5 https://de.wikipedia.org/wiki/Autopoiesis Abruf 04.01.2022
6 Berne, Eric: Ich bin o.k., du bist o.k. Eine Einführung in die Transaktionsanalyse Taschenbuch – 44. Auflage 2010. ISBN 978 3 499 16916 8