Emphatie, Verletzlichkeit und Scham

Abschlussarbeit von Kathrin Harms, als PDF lesen


Was ist Empathie?

Wie entsteht sie in unserem Gehirn und im Laufe unserer menschlichen Entwicklung?

Was befähigt uns dazu mit anderen Menschen mitfühlen zu können?

Bei der Recherche zu dem Thema hat sich herausgestellt, dass Verletzlichkeit und Scham unsere Empathiefähigkeit stark beeinflussen – positiv und negativ.

Was haben Verletzlichkeit und Scham mit Empathie zu tun und wie unterscheiden sie sich?

Warum und auf welche Weise steht uns das Schamgefühl in Sachen Empathie und Verletzlichkeit im Wege?

Welche Möglichkeiten gibt es für uns mit diesen Emotionen im Alltag besser umzugehen?

Diesen Fragen werde ich in folgender Arbeit nachgehen, um das Zusammenspiel von Empathie, Verletzlichkeit und Scham zu beleuchten. Dabei wird sich am Ende zeigen, wie wir uns durch ein authentischeres Selbst mit mehr Empathie begegnen können und somit einen besseren Zugang zu unseren Mitmenschen gewinnen.

Empathie – Grundlagen

Definition

Das Online Biologie-Lexikon Spektrum definiert „Empathie“ folgendermaßen:

Empathie w [von griech. empatheia = heftige Leidenschaft; Adj. empathisch], Bezeichnung für die Erfahrung, unmittelbar der Gefühlslage (Emotionen) eines anderen teilhaftig zu werden und sie somit zu begreifen.

und weiter:

„Auslösende Reize (Auslöser) für das empathische Erlebnis sind das Ausdrucksverhalten eines anderen bzw. die Situation, in der dieser sich befindet.

Die ausdrucksvermittelte Empathie baut auf dem Mechanismus der Gefühlsansteckung auf; erst die Entwicklung eines Selbstkonzepts erlaubt es jedoch, das mitempfundene Gefühl beim anderen zu lokalisieren.“1

Der Begriff Empathie tauchte das erste Mal Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland als Wort „Einfühlung“ auf, das den Eingang ins Englische mit „empathy“ fand und zurück wieder ins Deutsche als „Emapthie“ übersetzt wurde.

Empathie oder das Verstehen anderer Menschen bedeutet nicht mit anderen Mitleid zu haben, sondern sich ganz auf die Emotionen der anderen Person einzulassen und ihr aufmerksam zuzuhören. (vgl. SCHMETKAMP/ WIEBICKE 2020)

Die oben genannte Begriffsdefinition der „Empathie“ macht deutlich,  dass für die Fähigkeit und Bereitschaft mit anderen Menschen zu empathisieren erst die Bildung eines Selbstkonzept nötig ist, d.h. das Wissen über unsere persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten, Vorlieben, Gefühle und Verhalten. (vgl. JAMES 1981)

Gehirnphysiologische Grundlagen der Empathie

Die gemeinsamen neuronalen Schaltkreise unseres Gehirns (d.h. prämotorischer Kortex und Spiegelneuronen  in der Inselrinde unseres Gehirns) durchdringen jeden Aspekt unseres sozialen Lebens und erleichtern Verstehen, Lernen und Sprache.

Angesichts der Fähigkeit unseres Gehirns, Verbindungen von Inhalten durch hebbsche Prozesse 2 zu lernen („Was zusammen feuert vernetzt sich“), scheinen gemeinsame Schaltkreise eine fast unvermeidliche Eigenschaft des menschlichen Gehirns zu sein. (vgl. Keysers 2013, S. 278)

Wie funktioniert der neuronale Schaltkreis, der Emotionen in uns auslöst und uns die Emotionen anderer nachempfinden und darauf reagieren lässt?

Unsere Sinnesreize werden zunächst vom Thalamus („das Tor zum Bewusstsein“) gefiltert.

Dieser supprimiert sie entweder als irrelevanten Reiz (z.B. Verkehrslärm als andauernden akustischen Reiz) oder leitet ihn direkt weiter an unsere Amygdala (auf Grund seiner Form auch Mandelkern genannt), die Teil unseres limbischen Systems ist.

Diese entscheidet wiederum, ob eine Information schädlich oder nützlich für uns ist.

Ist sie schädlich, wird über den Hypothalamus und den Hirnstamm eine körperliche Defensivreaktion angeregt, indem z.B. der Puls und Blutdruck steigt und Schweiß ausbricht.

Der Präfrontale Cortex (PFC) ist die Hirnregion, die an Planung und Emotion beteiligt ist.

Hier werden emotionale Reize aus dem limbischen System in bewusste Gefühle transformiert, Emotionen in ein Gesamtbild (aus Erfahrungen) integriert und Entscheidungen getroffen, was die beste Handlung ist. (vgl. OSTERATH 2018)

Persönlichkeit und Gefühlsleben werden von dieser Hirnregion deutlich bestimmt, was der Fall des Arbeiters Phineas Cage beweist: auf Grund eines Unfalls hatte er Läsionen im PFC und war anschließend nicht mehr in der Lage seine Emotionen und Persönlichkeit angemessen zu regulieren. (vgl. PINEL 2007. S.570f)

Die Spiegelneuronen im prämotorischen Kortex befähigen uns nicht nur dazu Handlungen zu beobachten, sondern auch diese nachzuempfinden. Sie lassen beispielsweise ein Baby mitweinen, wenn ein anderes Kind sich wehgetan hat oder uns mit dem Filmhelden buchstäblich „mitleiden“ während wir einen bewegenden Film anschauen.

Wie Mbemba Rabbi 2007 im Rahmen einer Studie herausfand, haben Menschen, die Emotionen anderer stärker mit empfinden auch aktivere Spiegelneuronen. Dies zeigt uns, warum Menschen emotional sehr unterschiedlich auf Filme reagieren und unterschiedlich starke Reize benötigen, um mit anderen mitfühlen können. (vgl. KEYSERS, S. 131f)

Das Hirnareal der Inselrinde, in der sich besonders viele Spiegelneuronen befinden, kann uns zu Einfühlungs vermögen und positiven Gefühlen befähigen, aber ebenso das düstere Gegenteil in uns wecken.

Wir sind in tiefster Seele und unausweichlich soziale Wesen.

und weiter:

„Unsere Gesellschaften, unsere Kultur, unser Wissen, unsere Technologie und unsere Sprache – alles, was uns zu Recht stolz sein lässt auf unser Menschsein, scheint eine logische Konsequenz dieser Gehirnarchitektur zu sein, die uns die Geistesverfassung anderer Menschen miterleben lässt.“(ebd., S. 278)

Der Ursprung der Empathie

Empathie beginnt im frühesten Kindesalter.

Kinder ahmen physisch den Kummer des Anderen nach („motorische Mimikry“ ), um bei sich selbst die jeweiligen Gefühle hervorzurufen.

Ab zweieinhalb Jahren lässt der motorische Mimiky-Effekt nach und die Kinder können zunehmend zwischen eigenen Gefühlen und denen des Anderen unterscheiden.

Die Grundlegende Lektion für das Gefühlslebens der Kinder ist nach Daniel Stern (zur Zeit seiner Untersuchungen Psychiater an der Cornell Medial School) die emotionale Abstimmung mit Ihrer Mutter, d.h. intime Momente miteinander, in denen ein wiederholter Austausch von Blicken zwischen Mutter und Kind stattfindet.

Stern betont, dass die zahlreichen „Momente der Abstimmung bzw. Fehlabstimmung zwischen Mutter und Kind die emotionalen Erwartungen prägen, mit denen Erwachsene an ihre engen Beziehungen herangehen, und dass sie sie vielleicht stärker prägen als die dramatischeren Ereignisse der Kindheit.“ (ebd.)

Wer also in früher Kindheit keine emotionale Verbundenheit mit seinen wichtigsten Bezugspersonen spüren konnte, wird auch im Erwachsenen alter Schwierigkeiten haben Empathie für Andere geschweige denn sich selbst aufzubringen.

Voraussetzungen der Empathie

Als Grundlage der Empathie nennt GOLEMAN (2019) die Selbstwahrnehmung: „je offner wir für unsere eigenen Emotionen sind, desto besser können wir die Gefühle anderer deuten.“ (S. 127)

Das bedeutet erst nachdem wir unsere eigenen Gefühle wahrgenommen, erforscht und gelernt haben gut mit ihnen umzugehen, umso besser sind wir in der Lage mit den Gefühlen anderer umzugehen.

David Hume3, stellte drei Kriterien auf, die wichtig sind für Empathie:

Nähe,

Vertrautheit

Ähnlichkeit.

Es ist also einfacher mit einer Person mitzufühlen, wenn man mit ihr vertraut ist. Vertrautheit ist nicht zwingend notwendig, um einer anderen Person Empathie entgegenzubringen; fällt der Person, die Empathie gegenüber einer unbekannten Person ausübt jedoch in diesem Falle schwerer.

Auch in hierarchischen Positionen fällt dies immer wieder schwer, bspw. mit untergeordneten Mitarbeitern oder umgekehrt mit Vorgesetzten.

Eine wichtige emotionale Voraussetzung für Empathie ist Gelassenheit und Aufnahmebereitschaft, „damit das emotionale Gehirn die subtilen Signale des Empfindens eines anderen Menschen aufnehmen und nachahmen kann.“ (GOLEMAN S.137)

Wenn wir dann emphatisch zuhören und uns selbst verletzlicher und offner ausdrücken, können wir die Beziehungen  zu unseren Mitmenschen positiv beeinflussen.


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Quellen bis hierher

1 https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/empathie/21065
2 Nach der hebbschen Lernregel (benannt nach D.O. Hebb, Entdecker der synaptischen Plastizität) können 2 Neuronen, Synapsen und Hirnareale je nach Aktivierungsintensität wachsen und sich metabolisch verändern. (vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/hebbsche-regel/30973)
3 schottischer Philosoph, Ökonom und Historiker der Aufklärung
4 vgl. https://www.berliner-zeitung.de/zukunft-technologie/hirnforschung-mitgefuehl-laesst-sich-trainieren– 4li.6179